„Um eine Gesellschaft gesund zu erhalten, ist der Mittelstand von großer Bedeutung“

Exklusivinterview mit Susanne Drapalik, Präsidentin des Samariterbundes Wien, über die Gefährdung des österreichischen Mittelstands, die erfolgreichen Projekte „LernLEO“ und „Suppentopf“ sowie die Problematik des Bildungssystems u.v.m.
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„Um eine Gesellschaft gesund zu erhalten, ist der Mittelstand von großer Bedeutung“
Susanne Drapalik, Präsidentin des Samariterbundes Wien.

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Frau Drapalik, der Arbeiter-Samariter-Bund Österreich (ASBÖ) ist ein gemeinnütziger Verein und zählt zu den bekanntesten Rettungsdiensten Österreichs. Heute arbeiten über 3.700 Beschäftigte, knapp 8.500 Freiwillige und jährlich rund 1.900 Zivildiener für den ASBÖ. In Wien ist der Samariterbund zusätzlich noch die größte Hilfsorganisation der Stadt. Welche unmittelbaren, aber auch langfristigen Ziele haben Sie sich persönlich in ihrer Zeit als Präsidentin gesetzt?

Neben der Katastrophenhilfe, den Rettungs- und Sanitätsdiensten sowie als Anbieter von Erste-Hilfe-Kursen ist der ASB Wien in vielen sozialen Bereichen tätig: Wohnungslosenhilfe, Lernunterstützung für Kinder, mobile Krankenpflege, Heimhilfe, Alltagsbegleitung, Besuchsdienst und Sozialberatung. Wir betreiben Flüchtlingseinrichtungen, Senioren-WGs, Sozialmärkte und das Angebot Essen auf Rädern. Das Projekt Samariter Suppentopf ermöglicht von Armut betroffenen Menschen täglich eine warme Mahlzeit. Außerdem bieten wir die Ausbildung von Sanitäter:innen und Heimhilfen an.

In meiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Präsidentin liegen mir einerseits die Sozialleistungen sehr am Herzen, und gerade in Zeiten wie diesen ist hier vieles noch ausbaufähig. Ebenfalls wichtig ist mir, Menschen für das Ehrenamt zu gewinnen, sowie vorausschauend Maßnahmen für Katastrophen zu entwickeln.

Hier haben wir durch unseren Einsatz in der Pandemie bereits viel lernen können. Außerdem ist mir eine längerfristige Beschäftigung mit dem Thema Klimaschutz unerlässlich.

Sie sind seit Ende 2020 Präsidentin des Landesverbandes Wien und ebenso Vizepräsidentin des ASBÖ. Als Ärztin für Allgemeinmedizin und Fachärztin für Innere Medizin waren sie von 1980 bis 2020 im Wiener Gesundheitsverbund in unterschiedlichen Positionen tätig. Welche Erfahrungen aus ihrer beruflichen Anfangszeit haben Ihnen speziell geholfen, eine so große Organisation – die größte Organisation innerhalb des ASBÖ – zu leiten?

Durch meine 40-jährige Tätigkeit im Gesundheitswesen konnte ich viele Erfahrungen sammeln. Vor allen der Umgang mit Kolleg:innen und Mitarbeiter:innen in einer respektvollen und wertschätzenden Art war mir immer sehr wichtig und ist gerade in einer NGO mit vielen Ehrenamtlichen absolut bedeutend.

Aber auch der gezielte Einsatz von Ressourcen und die Beachtung der vorhandenen finanziellen Mittel hat mir den Einstieg erleichtert. Wichtig ist eine gute Zusammenarbeit mit den Führungskräften. Und, den Kollg:innen zuzuhören. Außerdem: Der große Bonus im ASB Wien ist, einen großartigen Geschäftsführer zu haben, dem ich vollkommen vertrauen kann.

Bereits einer von sechs Österreichern ist armuts- und ausgrenzungsgefährdet. Die Teuerung erschwert nicht nur das Leben im Alltag, sondern führt zur Gefährdung des österreichischen Mittelstands. Auch in der Wirtschaft, abgesehen von der Luxusgüterbranche, ist ein bemerkbarer Verlust der Kaufkraft zu beobachten. Welche Maßnahmen würden Sie setzen, wenn Sie die Möglichkeit hätten, um diesen Trend umzukehren?

Um eine Gesellschaft gesund zu erhalten, ist der Mittelstand von großer Bedeutung. Sobald die Kaufkraft nachlässt, weil die Spanne zwischen Einkommen und Teuerungswelle – und hier vor allen bei den lebensnotwendigen Gütern – immer größer wird, nimmt die Armut zu.

Ich sehe hier die Politik gefordert, gezielte Maßnahmen wie eine Mietzinsbremse, aber vor allem auch im Bereich Energie bei Strom und Gas ebenso wie eine Kostendämpfung im Bereich lebensnotwendiger Güter zu setzen.

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„Um eine Gesellschaft gesund zu erhalten, ist der Mittelstand von großer Bedeutung“

Vor etwas mehr als einem Jahr hat der Samariterbund das Projekt „Suppentopf“ vorgestellt, wo man sozial Benachteiligten mit warmen Mahlzeiten helfen möchte. Unglaublich, aber wahr – regelmäßige warme Mahlzeiten sind in Österreich nicht mehr selbstverständlich. Wie entwickelt sich das Projekt, wird der Andrang größer und hat sich die Klientel der Bedürftigen in den letzten Jahren oder Jahrzehnten verändert?

Begonnen haben wir dieses Projekt vor einem Jahr mit einer Mahlzeit, das sind konkret 150 Portionen, zwei Mal in der Woche in jeweils einem unserer fünf Sozialmärkte. Der Andrang war so groß, dass wir inzwischen täglich bis zu 300 Portionen an fünf Tagen in der Woche kochen und jeden Tag in einem anderen Sozialmarkt verteilen.

Ein Rückgang der Kliente:innen ist nicht zu beobachten – im Gegenteil: Die Nachfrage steigt immer weiter und betrifft inzwischen alle Altersschichten von Familien mit Kindern bis Pensionist:innen. Die Armut sieht man den Menschen aber nicht an, obwohl sie bereits bis in die untere Mittelschicht vorgedrungen ist.

Im öfter sind durch die Teuerung auch Kinder unmittelbar von Armut betroffen. In Kärnten werden viele Eltern von den Auswirkungen der Inflation erdrückt und müssen ihre Kinder ohne ausgewogenes Frühstück in die Schule schicken. Das Projekt „Breakfast-Klub“ soll dem nun entgegenwirken. Ist dies nicht beschämend für eines der reichsten Länder Europas und glauben Sie, dass politisch genug gegen solch essenzielle Probleme unternommen wird?

Hier ist politisch noch viel zu tun. Ein ausgewogenes Frühstück bzw. eine Mahlzeit mit gesunden Bioprodukten sind für sehr viele nicht mehr leistbar. Es ist traurig, dass hier Maßnahmen dringlichst erforderlich sind – auch aus staatlicher Sicht.

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Um eine Gesellschaft gesund zu erhalten, ist der Mittelstand von großer Bedeutung

Denn letztendlich kommt es bei einer ausgewogenen Ernährung über die Jahre zu weniger Erkrankungen und damit zu einer Entlastung des Gesundheitssystems. Als Beispiel sei Finnland erwähnt, die in allen Schulen für Kinder ausgewogenes Essen anbieten. Gute Bioprodukte durch regionale Betriebe steigern ebenso die regionale Wirtschaft, fördert Arbeitsplätze, was wiederum zur Reduzierung von Armut führt.

Bleiben wir beim Thema Kinder: 2023 feierte das Projekt „LernLEO“ seinen zehnten Geburtstag. Für unsere Leser – der Samariterbund Wien hat dieses kostenlose Projekt ins Leben gerufen, um Kindern aus einkommensschwachen Familien kostenlose Hausaufgaben- und Lernunterstützung zu ermöglichen. Auf diese Weise soll für mehr Chancengleichheit des Nachwuchses gesorgt werden. Wie lautet, nach zehn Jahren, ihr Fazit und ist der Fortbestand gesichert?

Eine gute Schulbildung ist der Schlüssel zu einer guten Ausbildung. Gute Ausbildung schafft mehr Fachkräfte und wirkt auch einer sozialen Armut entgegen. Eine Studie der WU Wien hat aufgezeigt, dass 1 in unser LernLEO investierter Euro zu einem gesamtgesellschaftlichen Mehrwert von 22 Euro führt.

Wir betreiben in unserer Bildungs- und Sozialeinrichtung also nicht nur Hausaufgabenbetreuung und Nachhilfe, um individuelle Nachteile auszugleichen, sondern sind insoweit auch massiv präventiv tätig, indem LernLEO hilft, dass Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien genau dieselben Chancen nutzen können wie besser gestellte Altersgenoss:innen.

Wir sind stolz, dass die von uns betreuten Kinder, durch diese Unterstützung der Weg zu einer guten Ausbildung ermöglicht wird. Der Bedarf ist weiterhin groß. Allein für unsere drei Standorte mit seinen insgesamt gut 120 Mädchen und Buben stehen 300 weitere Kinder auf der Warteliste. Wir könnten also aus dem Stand acht weitere LernLEO füllen. Es ist eine wichtige Aufgabe, dieses Angebot weiterzuführen und idealerweise auszubauen.

Wir sind dabei komplett auf Spenden angewiesen und jede Form der Unterstützung, seien es Sachwerte wie Laptops, Materialien, aber auch Lebensmittel für unsere gesunde Jause, die die Kinder bei uns täglich bekommen, Geldspenden und Sponsoring sind mehr als herzlich willkommen!

Bietet das LernLEO, an den Standorten, mehr als nur Hausaufgabenbetreuung und Nachhilfe? Gibt es ebenso Pläne, die Sie uns verraten können, für künftige Angebotserweiterungen?

Neben der Lernunterstützung ermöglicht das LernLEO den Kindern, eine meist etliche Jahre währende Gemeinschaft innerhalb eines geschützten Raumes zu erleben: Mit gesunder Jause, gemeinsamen Spielen, Workshops, Ausflügen und einem Sommercamp sowie einer PowerLeo genannten, speziellen Förderung des Selbstbewusstseins junger Mädchen, was im Dezember 2023 mit dem Österreichischen Integrationspreis prämiert wurde.

So kann hier neben Wissen auch die Persönlichkeit wachsen, um besser eine selbstbestimmte Zukunft zu gestalten. Die Kinder glauben an sich und agieren selbstbewusster. Dies hilft überdies bei einer sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Integration.

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„Um eine Gesellschaft gesund zu erhalten, ist der Mittelstand von großer Bedeutung“

Ist die große Nachfrage, in Österreich, nach Lernunterstützung eigentlich nicht auch ein Armutszeugnis unseres Bildungssystems, oder gibt er hierfür auch andere Gründe?

Ja. Es beruht darauf, dass in den vergangenen Jahrzehnten keine substanzielle Weiterentwicklung des Bildungssektors erfolgte.

Der monetäre familiäre Background entscheidet immer öfter über zukünftige Karrierechancen. Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien haben es deutlich schwerer. Bildung wird in Österreich mehr und mehr vererbt. Laut Statistik Austria machen 81% der Kinder von Akademikern und nur 37% von Nicht-Akademikern Matura. Noch schlimmer gestaltet sich dies beim Studium – 67% der Kinder von Akademikern und nur 22% der Nicht-Akademiker beginnen ein Studium. Bewegen wir uns wieder in Richtung von Bildungseliten, wie Anfang der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts, und was muss unmittelbar unternommen werden, um diese Entwicklung zu stoppen?

Bildung und Berufsausbildung ist insgesamt gesehen ein sehr komplexes Thema.
Ich glaube, dass es nicht zwingend notwendig ist, dass alle Menschen studieren. Unsere Gesellschaft muss wieder lernen, dass auch eine gute Fachausbildung ohne universitären Abschluss einen hohen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stellenwert haben muss.

Dann werden auch Kinder aus Akademikerfamilien – je nach Begabung – Fachberufe ergreifen. Natürlich ist das Studieren weiterhin ein wichtiger Faktor für unser Zusammenleben, aber ohne sehr gut ausgebildete Facharbeiter:innen funktioniert es nicht. Unabhängig davon sollte man die Studiengänge so gestalten, dass daneben ein eventuelles Erwerbsleben zur Finanzierung möglich ist.

Themenwechsel: Zu Beginn der Corona-Pandemie waren Sie als Leitern aller COVID-19-Betreuungseinrichtungen der Stadt Wien maßgebend mit der Bewältigung der Gesundheitskrise beschäftigt. Welche Schlüsse haben Sie aus der Krise gezogen und was würden Sie heute vielleicht anders machen?

Rückblickend hat die Zusammenarbeit mit der Stadt Wien sehr gut funktioniert und es wurde gemeinsam sehr vorausschauend geplant. Im Krisenmodus ist immer vom schlimmsten auszugehen. Und die Rücknahme von Maßnahmen ist immer viel einfacher als sie in einer Ausnahmesituation aufzustocken. Auch wenn es nach der Krise oft zu Kritik führt.

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Um eine Gesellschaft gesund zu erhalten, ist der Mittelstand von großer Bedeutung

Im Übrigen denke ich, dass weniger Experten besser als zu viele sind, die sich medial präsentieren. Zudem sollten künftig Aussagen in verständlichen Worten und nicht panikmachend getätigt werden. Ohne leere Versprechungen. Aus meinen Erfahrungen heraus ist es immer besser, klar zu sagen, dass man manches einfach noch nicht weiß. Die Menschen verstehen dies viel besser, als dass sie falsche Versprechungen verzeihen.

Viele Menschen, mit wissenschaftlichem, aber auch nichtwissenschaftlichem Background sahen, besonders in der Impfdebatte, den „objektiven“ wissenschaftlichen Diskurs gefährdet. Glauben Sie, dass die „für“ und „gegen“ Strömungen den sachlich-analytischen Diskurs innerhalb der Forschung gestört haben – anders formuliert: Hat man wissenschaftlichen Kritikern, in allen Bereichen, vielleicht zu wenig Gehör geschenkt?

Es war seit einem Jahrhundert die erste Pandemie, die aufgrund der Globalisierung weitreichender war als gedacht. Bedingt durch diese Situation und die zahlreichen sozialen Medien wurden rasch – denn was anderes als die Pandemie gab es als Thema ja nicht – Meinungen auf den Tisch gebracht, ohne, wie eigentlich in der Wissenschaft üblich, das Thema gezielt zu bearbeiten.

Klar ist allerdings: Vieles wissen wir nach Aufbereitung der Daten erst im Nachhinein, was allerdings wiederum Grundlage für das nächste Geschehen ist.

Inwieweit glauben Sie hat die Krise zu einer Spaltung in der Gesellschaft geführt?

Kurzfristig gab es eine Spaltung, aber ich beobachte zunehmend, dass diese Entwicklung rückläufig ist.

Wir möchten Sie gerne auch als Privatperson etwas näher kennenlernen, abschließend daher noch ein paar persönlichen Fragen:

Wie sieht, für Sie, ein typischer Arbeitstag in ihrem Unternehmen aus?

Die Hauptarbeit liegt bei unserem Geschäftsführer. Ich selbst habe regelmäßige Meetings mit ihm und engagiere mich tagaktuell in unterschiedlichen Bereichen.

Gibt es etwas, das Sie schon immer ausprobieren wollten, sich bisher aber nicht getraut haben?

Bedingt durch mein Alter habe ich schon viel erlebt. Gerne würde ich einen Flug im Paragleiter machen, bin aber dafür immer noch nicht mutig genug.

Wie schöpfen Sie abseits Ihres Berufes Kraft?

Neben gemäßigtem Sport vor allem durch meine Familie. Als Großmutter von vier Enkelkindern sind dies die Momente des Entspannens: Kinder genießen und nicht mehr erziehen zu müssen.

Welchen Berufswunsch hatten Sie als Kind?

Da ich eine großartige Lehrerin hatte: Volksschullehrerin.

Für welche drei Dinge in Ihrem Leben sind Sie am dankbarsten?

Eltern, die mir ein gutes Zuhause und eine gute Ausbildung ermöglicht haben. Eine Familie, die zusammenhält und einen Beruf, in dem ich mich auf unterschiedlichste Weise voll entfalten kann.

Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?

„Die Weisheit der Esel“ von Andy Merrifield.

Sie können EIN globales Problem lösen – welches wäre das?

Soziale Ungerechtigkeit aufgrund mangelnder Verteilungsgerechtigkeit.

Frau Drapalik, wir wünschen Ihnen viel Erfolg für die Zukunft und herzlichen Dank für das Interview.

Danke Ihnen.

Nähere Informationen zum Spenden an den Arbeiter Samariter Bund finden Sie hier

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