Trotz ihrer bisherigen Resilienz gegenüber den ökonomischen Folgen von Russlands Krieg gegen die Ukraine geraten die Volkswirtschaften Mittel-, Ost- und Südosteuropas zunehmend unter Druck.
„Die Rezession in Deutschland, ein sich eintrübendes internationales Umfeld, die anhaltend hohe Inflation, die Straffung der Geldpolitik und zu geringe fiskalpolitische Maßnahmen belasten die Konjunktur“, sagt Branimir Jovanović, Ökonom am wiiw und Hauptautor der Herbstprognose.
Wachstum bleibt noch erhalten
Für das Gesamtjahr 2023 prognostiziert das wiiw den EU-Mitgliedern in der Region ein Wachstum von durchschnittlich 0,6% und damit ähnlich wenig wie der Eurozone (0,5%). Gegenüber dem Sommer ist das eine Halbierung der Prognose.
„Der traditionelle Wachstumsvorsprung der Ostmitteleuropäer gegenüber Westeuropa dürfte damit in vielen Ländern zumindest für den Moment dahin sein. Angesichts einer möglichen Rezession in der gesamten Eurozone könnte diese negative Dynamik an Fahrt gewinnen, vor allem in den mit der schwächelnden deutschen Industrie stark verflochtenen Visegrád-Staaten“, konstatiert Branimir Jovanović
Markant besser sieht es in den südosteuropäischen EU-Mitgliedern Rumänien (2,5%) und Kroatien (2,5%) aus, wo die Mittelzuflüsse aus dem Corona-Wiederaufbaufonds „NextGenerationEU“ das Wachstum stützen. Die sechs Staaten am Westbalkan dürften im Schnitt um 2,1% wachsen, die Türkei um 3,2%. Die kriegsgeplagte Ukraine sollte mit 3,6% Wachstum heuer zu einer leichten Erholung ansetzen, Aggressor Russland dank boomender Rüstungsindustrie um 2,3% expandieren.
Besserung ist für die EU-Mitglieder in der Region 2024 in Sicht. Im kommenden Jahr prognostiziert das wiiw für sie ein durchschnittliches Wachstum von 2,5%, ausgehend von einem niedrigen Niveau und unterstützt von teilweise hohen Überweisungen aus dem EU-Corona-Wiederaufbaufonds – die Abwärtsrisiken bleiben allerdings erhalten.
„Ein schärferer Abschwung in der Eurozone, hartnäckig hohe Inflationsraten, eine militärische Eskalation in der Ukraine oder ein eskalierender Handelskrieg zwischen der EU und China könnten die Erholung im nächsten Jahr gefährden“, analysiert der Experte und Hauptautor der Prognose.
Mittelfristig steht somit auch die Möglichkeit eines Stagflations-Szenarios im Raum, bei dem die Region bei hoher Inflation nur wenig oder kaum wachsen würde.
Wirtschaftliche Erholung der Ukraine
Die Wirtschaft der Ukraine hat die russische Invasion besser verkraftet als zunächst angenommen. Für 2023 erhöht das wiiw daher seine Wachstumsprognose auf 3,6% des BIP. Trotz der russischen Schwarzmeerblockade und dem Bombardement von Getreidespeichern und Verladehäfen an der Donau nach dem Ende des Getreideabkommens stiegen die Exporte landwirtschaftlicher Produkte von Juli bis August um 16%. Aber die Risiken nehmen zu.
„Das Importverbot für ukrainisches Getreide durch Polen und Ungarn ist ein ernstes Zeichen für die zunehmende Spaltung der EU in Bezug auf weitere Ukraine-Hilfen. Angesichts der hohen Kriegskosten, die 2023 für ein Budgetdefizit von 27% des BIP sorgen, wäre jede Kürzung der westlichen Hilfsgelder für die Ukraine verheerend“, warnt Olga Pindyuk, Ukraine-Expertin des wiiw.
Russland und der Rüstungsboom
Trotz der aktuellen Rubelschwäche und der westlichen Sanktionen dürfte Russlands Wirtschaft heuer um 2,3% wachsen. „Die enorme Erhöhung der Militärausgaben befeuert einen Rüstungsboom, der gemeinsam mit stark steigenden Reallöhnen aufgrund des akuten Arbeitskräftemangels die Konjunktur nach oben zieht“, analysiert Vasily Astrov, Russland-Experte des wiiw.
Die Auslastung der Produktionskapazitäten bewegt sich auf einem Allzeithoch, die Arbeitslosigkeit auf einem Rekordtief. Die russische Zentralbank befürchtet im Lichte der auftretenden Engpässe bereits eine Überhitzung der Wirtschaft, welche die Inflation in Kombination mit dem schwächeren Rubel anheizen könnte. Dennoch leiden einige Sektoren, die von den westlichen Sanktionen betroffen sind. Die russische Militärproduktion konnten sie bisher aber nicht im erhofften Ausmaß treffen.
Die teilweise sehr aufwendige Umgehung der Sanktionen reicht aber nicht, um auch die restliche Wirtschaft ausreichend mit westlicher Hochtechnologie zu versorgen.
„Russland beschafft sich alle für seine Rüstungsindustrie notwendigen Hightech-Bauteile aus dem Westen mittlerweile über Drittstaaten. Das wird zu einer Primitivisierung der russischen Wirtschaft führen. Gemeinsam mit der immer stärkeren Abhängigkeit von steigenden Rüstungsausgaben dürfte das auch die Wachstumsaussichten mittelfristig stark begrenzen“, erörtert Vasily Astrov.
Reallöhne der Region steigen
Auch wenn die Inflation in praktisch allen beobachteten Ländern ihren Zenit überschritten hat, dürfte sie noch für absehbare Zeit hoch bleiben. Haupttreiber der Teuerung sind die steigenden Lebensmittelpreise, die auch zu immer größeren sozialen Verwerfungen führen.
Allerdings übersteigt die Kerninflation (ohne Lebensmittel und Energie) mittlerweile die Gesamtinflation in den meisten Staaten der Region. Während die Unternehmensgewinne auf historischen Höchstständen notieren, ziehen auch die Reallöhne zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder an. Sollten die Unternehmen darauf mit weiteren Preissteigerungen reagieren, könnte das zu einer Verstetigung der Inflation führen.
Österreich profitiert von Wirtschaftsdynamik in Südosteuropa
Angesichts eines Wachstums an oder unter der Nulllinie dürften Polen, Tschechien und Ungarn heuer keine Impulse für Österreichs Wirtschaft liefern. Die ansonsten so dynamischen Visegrád-Staaten fallen daher mit Ausnahme der leicht wachsenden Slowakei (0,8%) als Stütze für die heimische Konjunktur vorerst aus, auch wenn sie 2024 auf den Wachstumspfad zurückkehren dürften.
Mehr Dynamik ist für Österreichs Wirtschaft hingegen in Südosteuropa zu erwarten. Vor allem Rumänien (2,5%), Kroatien (2,5%) und die Türkei (3,2%) wachsen im regionalen Vergleich stark. Auch am Westbalkan läuft es etwa in Montenegro (4,5%), Albanien (3,5%) oder Bosnien-Herzegowina (1,7%) vergleichsweise gut.
„Trotz der insgesamt schwierigen Situation stützen die engen wirtschaftlichen Beziehungen Österreichs zu diesen Ländern die heimische Konjunktur und mildern so die aktuelle Wachstumsflaute“, resümiert Branimir Jovanović abschließend.