Dieser Doppelschlag hat weh getan: 2022 wurde Europa durch die Abhängigkeit von Russland geschockt, 2025 wird es durch die Abhängigkeit von Amerika geschockt. Europa plötzlich allein, muss sich auf eigene Beine stellen. Das trifft besonders auf die Verteidigung zu; auf die künftige nukleare Abschreckung. Das atomare „Gleichgewicht des Schrecks“ zwischen Ost und West hatte seit Ende des Zweiten Weltkriegs für (zweifelhafte) Stabilität in Europa gesorgt.
Heute geht es darum, ob Frankreich und vielleicht auch Großbritannien die atomare Abschreckung Europas übernehmen könnten. Frankreichs Präsident Macron hatte in den vergangenen Jahren immer wieder Gespräche zur europäischen Dimension der französischen Atom-Abschreckung angeboten. Ihm geht es dabei um die strategische Souveränität Europas. Europa sollte nach seinem Willen unabhängiger von den USA werden.
Das Thema ist nun brandaktuell, weil der Kurs von US-Präsident Trump Zweifel an der Verlässlichkeit Washingtons als Bündnispartner schürt. Schwung bekommen hat die Debatte nach Äußerungen des künftigen deutschen Bundeskanzlers Friedrich Merz. Dieser hatte kurz vor der Bundestagswahl gesagt, man müsse mit den europäischen Atommächten Frankreich und Großbritannien über nukleare Teilhabe oder zumindest nukleare Sicherheit reden.
Was hat Frankreich im Atomwaffen-Arsenal?
Laut dem Friedensforschungsinstitut Sipri besitzt Frankreich 290 der weltweit etwa 12.100 Atomwaffen und ist damit nach Russland, den USA und China die viertgrößte Atommacht. Héloïse Fayet vom französischen Institut für Internationale Beziehungen Ifri meint:
„Aus operationeller Sicht wird das französische Arsenal als ausreichend glaubhaft eingeschätzt, um Russland abzuschrecken.“
Das Land verfügt über vier Atom-U-Boote, von denen Raketen mit Atomsprengköpfen mit einer Reichweite von etwa 10.000 Kilometern abgefeuert werden können. Auch aus der Luft kann Frankreich Atomwaffen einsetzen. Die Rafale-Kampfjets können an die 50 Marschflugkörper mit Atomsprengköpfen abschießen. Sie haben eine Reichweite von 500 Kilometern.
Die USA besitzen deutlich mehr Atomwaffen als Frankreich. Laut Sipri sind es gut 5.000. Die Expertin für nukleare Abschreckung, Héloïse Fayet, geht davon aus, dass man auf den US-Schutzschirm auch mit einer Ausweitung der französischen Abschreckung nicht werde verzichten können. Darum gehe es aktuell aber auch nicht, sagte sie in der Zeitschrift „La Vie“. Sie vermutet, dass US-Atomwaffen weiterhin in Europa bleiben und eine Ausweitung der französischen Abschreckung auch wegen der unterschiedlichen Waffen und der geografischen Lage anders aussehen würde.

Mehr als um die Anzahl von Atomwaffen gehe es um die Flexibilität des Arsenals, sagte der Spezialist für ballistische Waffensysteme Étienne Marcuz dem Magazin „Le Point“. Es gelte, nukleare und konventionelle Fähigkeiten zu kombinieren.
Französische Atomwaffen auch in Partnerländern?
Paris könnte seinen Verbündeten vorschlagen, mit Eurofighter-Jets teilzunehmen, sagte Rüstungsexperte Étienne Marcuz der Zeitung „Le Figaro“. Auch könnte Frankreich europäische Bomber mit französischen Atomwaffen bestücken, was technisch allerdings nicht so einfach wäre, da die Raketen bislang nur an Rafale-Jets montiert werden können, sagte der ehemalige Atom-U-Boot-Kommandant Jean-Louis Lozier der Zeitung.
Französische Jagdbomber könnten zudem entlang der EU-Grenzen patrouillieren, wie dies auch die amerikanischen B52 regelmäßig tun. Außerdem könnten Frankreichs strategische Luftstreitkräfte trainieren, auf Flughäfen in anderen Ländern zu starten und zu landen, etwa in Polen, Rumänien oder Finnland. Laut Expertin Héloïse Fayet sind auch Lieferungen von Rafale-Jets und die Stationierung französischer Truppen in Partnerländern denkbar.
Nach US-Vorbild könnte Frankreich, laut Rüstungsexperte Étienne Marcuz, auch Atomwaffen in Partnerländern stationieren. Neben dem hohen symbolischen Wert würde dies den Abstand bei einem Atomschlag an Europas Ostflanke verkürzen und die Herkunft der Bedrohung für einen potenziellen Feind ausweiten.
Aus französischer Sicht müssten die Waffen aber unter strikter französischer Kontrolle bleiben und ihre Lagerorte von französischen Streitkräften geschützt werden. Das ist aber nichts Außergewöhnliches, denn auch der amerikanische Atomschirm steht unter der alleinigen Befehlsgewalt des US-Präsidenten.
Emmanuel Macron hat klargestellt, dass die Entscheidung über die französischen Atomwaffen in den Händen Frankreichs und seines Staatschefs bleibt. Zu Beginn der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar 2022 hatte Frankreich zwei Atom-U-Boote in einem Alarmstart aus den Hafenbunkern auslaufen lassen. Nach einem Treffen mit dem künftigen Bundeskanzler Friedrich Merz gab Emmanuel Macron bekannt, dass atombewaffnete Rafale-Jets künftig auf einem Stützpunkt nahe der deutschen Grenze stationiert werden.
Britische Atomwaffen nur auf U-Booten
Die britische Atommacht hat einen anderen Charakter als die französische. Die britischen Atomwaffen sind ausschließlich auf U-Booten stationiert und in enger technischer Abstimmung mit den USA. Könnten sie aus den USA abgeschaltet werden? Die Briten nutzen zur atomaren Abschreckung vier U-Boote mit Atom-Antrieb, von denen immer mindestens eines in den Weltmeeren unterwegs ist. Anders als Frankreich hat London seine Abschreckung auch in den Dienst der NATO gestellt. Nach Angaben eines Regierungssprechers nutzt Großbritannien seine nukleare Abschreckung bereits, um andere europäische Staaten zu schützen.
Mit Atomwaffen hat in Europa aber nur ein Land gedroht – nämlich Russland.
Erstveröffentlichung Kronen Zeitung
Autor: Kurt Seinitz