Schon die alten Griechen ahnten, dass die Zeit viele Gesichter hat. Neben der durch den Gott Chronos versinnbildlichten, messbaren Zeit kam so auch der Kairos – der günstige Zeitpunkt, die einmalige Chance – zu seinem Recht. Der deutsche Zeitforscher Norman Sieroka beschäftigt sich heute und mit der geballten Kraft mehrerer Wissenschaften mit der Zeit und ihren Facetten: Zeitdruck und Entschleunigung, Zeitwahrnehmung mit fortschreitendem Alter, Qualitäts-Zeit, Raum-Zeit und sogar Zeitreisen. Sieroka – der Philosophie, Physik und Mathematik an den Universitäten Heidelberg und Cambridge studiert hat – lehrt und forscht derzeit an der renommierten ETH in Zürich. Vor kurzem hat er ein überaus spannendes Buch zur „Philosophie der Zeit“ im Verlag C. H. Beck herausgebracht.
Zeit scheint heute ein knappes Gut geworden zu sein, nicht nur bei Führungskräften und Entscheidern. Zeitdruck aber führt oft direkt ins Burnout. Taugt die „Entschleunigung“ als Gegenstrategie?
NORMAN SIEROKA: Wenn die Zahl der Burnout-Erkrankungen steigt, dann muss man da etwas tun. Aber man sollte ein bisschen präziser sein und den Hintergrund genau beschreiben. Die pauschalisierende Rede vom Zeitmangel und der Entschleunigung als Antwort stört mich. Denn das trifft das Problem nicht genau, wir können die Zeit ja auch gar nicht entschleunigen. Auch das Wort vom Zeitdruck ist nicht auf alle Kontexte und auch nicht auf alle Berufsgruppen übertragbar. Die Sprache der Entscheider dominiert sehr stark unsere Alltagssprache, und ich halte das für problematisch. Es gibt zudem ja völlig unterschiedliche Typen von Menschen, die jeweils Zeit unterschiedlich erleben. Im Arbeitskontext kommt es aus meiner Sicht eher auf die Taktung an: Wie schnell ist die Abfolge von Terminen getaktet? Was mache ich wann? Die Menschen wollen mehr Freiheit über diese Entscheidungen haben.
Mit zunehmendem Alter scheint die Zeit für viele Menschen immer schneller zu vergehen. Sie erklären diese gefühlte Zeitwahrnehmung mit der dann oft schrumpfenden Menge an neuen Erlebnissen und Eindrücken …
Wenn ich in einem Jahr viel unternommen und viel Neues erlebt habe, dann habe ich danach auch viel zu erzählen. Und es fühlt sich an wie ein spannendes, ein langes Jahr. Wenn umgekehrt alles im immer gleichen Trott abläuft und sonst nicht viel passiert, dann kommt es mir im Rückblick so vor, als ob das Jahr sehr schnell vergangen ist. Ich glaube, dass das ein wichtiger Faktor ist. Ein anderer Aspekt ist, dass im höheren Alter der Gedanke an den Tod, an das eigene Ende eher hochkommt. Auch das sorgt natürlich für eine andere Zeitwahrnehmung als beispielsweise bei einem Dreijährigen, der die Welt jeden Tag neu entdeckt.
Und welche Rolle spielt der emotionale Gehalteines Moments, spielen also etwa Glück und Leid für die Wahrnehmung von Zeit?
Eine wichtige, und zwar sowohl für unsere Wahrnehmung als auch für unsere Planung und das gesamte Lebenswohlergehen. Das, was wir erleben, ist immer die Gegenwart, sie hat daher für uns eine besondere Qualität. Und sie hat durch das unmittelbare Erleben von Glück und Schmerz auch einen ganz besonderen Stellenwert für uns. Diese Unmittelbarkeit in der Gegenwart verstärkt die Vorlieben, wenn es um das Erleben von etwas Schönem oder eben etwas Leidvollem geht. In der Philosophiegeschichte haben allerdings sehr viele dafür plädiert, eben nicht so sehr auf die Gegenwart zu blicken, sondern das Leben als Ganzes zu betrachten. Und sich nicht unter der Perspektive des kurzfristigen Glücks oder der kurzfristigen Leidvermeidung ein in Summe sehr schlechtes Leben einzukaufen. Aber es ist schwierig, diesem Rat zu folgen.
Von der Speziellen Relativitätstheorie samt Raum-Zeit und Zeitdilatation bis hin zu Stephen Hawkings „imaginärer Zeit“ gibt es viele physikalische Konzepte, die irgendwann zu Science-Fiction und „Zeitreisen“ führen …
Was Stephen Hawking da beschrieben hat, ist etwas, das man in bestimmten Bereichen der Quantenfeldtheorie tatsächlich tut. Wenn ich die Raum-Zeit als etwas Vierdimensionales beschreiben möchte, dann habe ich drei Raumdimensionen und die Zeit als vierte Dimension. Mathematisch kann man damit so umgehen, dass ich eine Dimension um 90 Grad rotiere, ähnlich wie eine y-Achse gegenüber der x-Achse gedreht ist. Und dann kann ich die Zeit so behandeln wie den Raum. Ein dabei philosophisch wichtiger Begriff ist allerdings jener der Kausalität. Sie haben also vollkommen Recht, wenn Sie das Beispiel mit der imaginären Achse in Zusammenhang mit Zeitreisen gebracht haben. Wenn die Kausalität – also das Verhältnis von Ursache und Wirkung zur Zeit – nicht mehr im üblichen Sinn gewahrt wird, dann wird es nämlich schwierig. Was würde passieren, wenn die Wirkungen zuerst da wären und dann erst die Ursachen kämen? Heißt das, dass die Zeit rückwärts gelaufen ist?
Und was können wir – jenseits von Wissenschaft und Science Fiction – davon mitnehmen?
Dass wir die Zeit nicht so monolithisch verstehen sollten. Es gibt immer das, was wir mit den Uhren messen. Es geht aber auch darum, wie wir Dinge empfinden. Und die Dinge liegen in unterschiedlichen Kontexten und auf Basis verschiedener Erfahrungswerte auch tatsächlich unterschiedlich. Zeit ist immer wichtig, aber Zeit bedeutet nicht immer genau dasselbe.
In letzter Zeit ist die Vorstellung einer „Quality Time“ populär. Also letztlich der Versuch, mangelnde Zeit-Quantität durch eine höhere Qualität zu kompensieren. Was halten Sie davon?
Ich finde das überhaupt nicht gut, für mich steht dahinter nämlich die Idee eines Rankings. Ich zeichne dabei ja eine bestimmte Zeit aus, das ist die wirklich gute Zeit. Das heißt aber implizit, dass die anderen Zeiten schlechter sind, und das spielt Dinge gegeneinander aus. Wenn ich eine bestimmte Zeit als Quality Time auszeichne, dann ergeben sich zwei Probleme: Einerseits degradiere ich also andere Zeiten, und andererseits belaste ich diese „Qualitäts“-Zeit mit einer unnötig hohen Erwartung. Ich bin da doch eher ein Freund der Pluralität. Wir erfahren Zeiten und sammeln unterschiedliche Arten von Erfahrungen. Und all diesen Erfahrungen sollten wir dann auch ihren Raum geben.