Weltweit verschieben sich Machtgefüge und Kräfteverhältnisse. Damit wächst auch das Gefühl der Dringlichkeit, wenn es um die Wahrung der nationalen und internationalen Sicherheit geht.
Angesichts zunehmender geopolitischer Bedrohungen steigern europäische Staaten ihre Verteidigungsausgaben – zugleich wird deutlich, dass eine nachhaltige Abschreckung mehr erfordert als nur finanzielle Ressourcen. Gebraucht wird ein ganzheitlicher Ansatz, der industrielle Innovation, agile Fertigung und sektorübergreifende Kooperation verbindet, um den Anforderungen der modernen Verteidigung zu genügen.
Die Roland Berger Studie „The defence imperative: Driving innovation and resilience on Europe’s path to strategic autonomy“ identifiziert Ansätze, mit denen das sogenannte Abschreckungsniveau erreicht werden kann – die Industrieproduktion, die notwendig ist, um potenzielle Aggressoren von einem Angriff abzuhalten.

„Die europäische Sicherheitslandschaft hat sich dramatisch verändert. Europa muss seine Verteidigungs- und Zivilindustrie bündeln, skalierbare Produktionskapazitäten aufbauen und auf hochvolumige, kosteneffiziente und softwaredefinierte Technologien setzen. Die Herausforderung ist enorm, aber mit ihrer Fähigkeit zu Innovation und Partnerschaft können die Europäer sie meistern“, konstatiert Felix Mogge, Partner bei Roland Berger.
Vier essenzielle Entwicklungspfade
Die Studie führt das Konzept des „Abschreckungssniveaus“ ein, definiert als die industrielle Produktionskapazität, die für die Aufrechterhaltung und Erneuerung der europäischen Rüstungsgüter notwendig ist.

Dabei gehen die Autoren davon aus, dass Russland seine Rüstungsproduktion zwischen 2024 und 2030 um 25 Prozent steigern wird. Um eine glaubwürdige Abschreckung sicherzustellen, muss Europa zusätzliche 10 Prozent über diesem Produktionslevel liegen. Gestützt auf diese Zahlen benennt die Studie exemplarische Produktionsziele für drei essenzielle Fähigkeiten: Artilleriemunition, Kampfpanzer und luft-/seegestützte Unterschall-Marschflugkörper.

Bei ihren Berechnungen kommen die Autoren auf eine europäische Produktionszielgröße von jährlich 2,9 Millionen Artilleriegeschossen, die damit über der russischen Produktion von geschätzten 2,7 Millionen Geschossen im Jahr 2030 läge. Mit einer jährlichen Produktion von 370 Kampfpanzern könnte Europa den russischen Jahresausstoß von circa 340 Kampfpanzern übertreffen. Nötig wären zudem 1.380 Marschflugkörper gegenüber den 1.250 Marschflugkörpern, die 2030 pro Jahr in Russland vom Band laufen dürften.
Zur Erreichung dieser Ziele und zum Ausbau weiterer strategisch notwendiger Fähigkeiten identifiziert die Studie vier ineinandergreifende Entwicklungspfade für die europäische Industrie:
- Ausschöpfen der auf Friedenszeiten ausgelegten Produktionskapazitäten
- Fokussierte Investitionen zur Erweiterung und Modernisierung der Produktionskapazitäten

- Kooperation mit zivilen Industriezweigen
- Aufbau von Produktionskapazitäten für technologisch intelligente, kosteneffiziente und skalierbare Systeme
Die konsequente Verfolgung dieser Pfade ist unerlässlich, damit Europa bekannte und neu entstehende Sicherheitsrisiken effektiv abwehren kann.
Die Autoren nennen fünf zentrale Hebel für die Erreichung des europäischen Abschreckungsniveaus:
Erstens müsste das Rüstungsportfolio um robotisierte und automatisierte Systeme als Ergänzung zu Truppen erweitert werden. Zweitens ist es von Nöten die industrielle Agilität zur schnellen Bereitstellung von Kapazitäten zu erhöhen. Zudem sollte ein technologie- beziehungsweise ein softwarezentrierter Ansatz zur erfolgreichen Bewältigung von mehrdimensionalen Bedrohungslagen gefördert werden. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Straffung der Beschaffungsprozesse innerhalb Europas zum raschen Aufbau der Abschreckungsfähigkeit. Schließlich muss die Integration des zivilen und militärischen Sektors zur vollständigen Ausschöpfung von Dual-Use-Kapazitäten gestärkt werden.
Fazit
In ihrem Fazit betonen die Autoren die Notwendigkeit eines abgestimmten Handelns der drei wichtigsten Stakeholder-Gruppen: politische Entscheidungsträger und Militärorgane, Verteidigungsindustrie sowie Unternehmen aus dem zivilen Sektor. Für jede dieser Gruppen formulieren sie Empfehlungen, mit denen sich die Kooperation intensivieren, vorhandene Kapazitätslücken schließen und eine dauerhafte Erreichung des Abschreckungsniveaus sicherstellen lassen.

Europas Verteidigungsindustrie muss bestehende Produktionsanlagen modernisieren, um ihren Output schnell erhöhen zu können. Zugleich muss sie mit dem zivilen Sektor zusammenarbeiten, um Lieferengpässe zu beheben und eine hochvolumige Produktion zu erzielen. Partnerschaften mit Branchen wie der Automobil- oder Elektronikindustrie könnten ein wirksames Mittel sein, um kritische Engstellen in den Lieferketten zu vermeiden. Darüber hinaus könnte die zivile Industrie von weiteren kommerziellen Wachstumschancen im Verteidigungsbereich profitieren, insbesondere angesichts der aktuellen Herausforderungen in ihren Kerngeschäftsbereichen zu wachsen.
„Europas Verteidigungsökosystem muss sich an die „neue Welt“ der Kriegsführung anpassen und einen radikalen Wandel vollziehen. Die europäische Verteidigungstechnologie und ihre industrielle Basis stehen vor einer neuen Ära, in der sie sich gegen die vielschichtigen Bedrohungen der modernen Kriegsführung wappnen müssen. Zivile Akteure werden entscheidende Partner sein, um die notwendige Agilität und Kosteneffizienz zu erreichen“, ergänzt Manfred Hader, Partner bei Roland Berger, abschließend.
Nähere Informationen zur vollständigen Studie finden Sie hier.