Führung ist Orchestrieren von Ökosystemen
Sie haben ursprünglich an der Universität für Bodenkultur studiert. Hätten Sie sich damals vorstellen können, in einem der führenden europäischen Technologiekonzerne eine Führungsposition einzuneh-men? Und machen Sie es immer noch gern?
Bei mir war und ist es immer die Begeisterung für Themen und Aufgaben, die mich antreibt. Zuerst meine naturwissenschaftlich-technische Ausbildung an der Universität für Bodenkultur in Wien, zu Recht die Uni-versität des Lebens, wie auch mein Engagement im Zuge der Hainburg-Diskussion. Immer auch schon mit der Frage, ob sich Ökologie und Ökonomie sinnvoll verbinden lassen und wie Forschung und Innovation zur Zukunftsgestaltung beitragen können. Mein Einstieg bei Infineon war ein wichtiger Meilenstein, und der Funke ist bei mir sozusagen sofort übergesprungen.
Wenn man hier in Villach aus Ihrem Bürofenster schaut, sieht man eine riesige Baustelle. Sie erweitern nicht nur die Produktion der Chipfabrik, sondern auch die Bereiche Forschung und Entwicklung, übrigens neben Villach auch in Linz und Graz. Was ist der Grund für diesen Optimismus, während schon einige wichtige Branchen Anzeichen von Konjunkturrückgang melden?
Wir haben die Herausforderungen eines schwieriger werdenden Umfelds bislang gut gemeistert. Nicht zuletzt weil wir mit unseren Produkten und Systemen breit aufgestellt sind für globale Megatrends wie Energieeffizienz, Klimaschutz, Mobilität oder den demografischen Wandel und das Agieren in einer vernetzten Welt. Diese strukturellen Treiber in unseren Zukunftsmärkten sind intakt, der große Boom der letzten Jahre ist aber vorbei. Wir wachsen weiter, nur langsamer. Und wir als Infineon denken und planen mittel- und langfristig.
„LEADER SIND HEUTE NICHT MEHR NUR RICHTUNGSWEISER, SONDERN VORBILDER, TALENTMANAGER UND COACHES IN EINER PERSON.“
Dipl.-Ing. Dr. Sabine Herlitschka, MBA
Wo sehen Sie für Infineon – und damit für den Standort Villach – die größten Chancen für Wachstum und neue Produkte?
Die Digitalisierung ist ein wesentlicher Treiber für die globale Nachfrage nach Leistungshalbleitern und Mikroelektroniklösungen. Und die können wir aus Villach heraus als konzernweites Kompetenzzentrum für Leistungselektronik und neue Halbleitermaterialien bedienen und mit innovativen Lösungen vorantreiben. Der Trend geht zu immer kleineren und leichteren Endgeräten, aber auch zu mehr Leistung und besserer Energieeffizienz. Daher setzen wir auch auf neue Halbleitermaterialien wie Siliziumkarbid und Galliumnitrid. Diese neuen Energiesparchips finden Anwendung in Zukunftsmärkten wie Solarenergie und Windkraft, Ladestationen für Elektroautos oder der Mobilfunk Infrastruktur von 5G-Netzwerken.
Und wo könnte Infineon von möglichen Rückgängen betroffen sein?
Wir bemerken zwar die Flaute der Autoindustrie, die Krise trifft uns aber nicht so hart wie andere Zulieferer. Produkte wie die Motorsteuerung für Fensterheber oder der Auslöser für Airbags hängen im Wesentlichen zwar an der Zahl verkaufter Autos. Gleichzeitig profitieren wir aber von der wachsenden Nachfrage nach mehr Sicherheit und Komfort in der Mobilität, wie etwa bei Fahrassistenzsystemen zum Einparken oder zuverlässigen Kommunikationsschnittstellen im Fahrzeug.
Welche Rolle spielt der Standort Villach insgesamt in der Matrix von Infineon?
Infineon Austria bündelt innerhalb des Konzerns als einziger Standort neben Deutschland die Kompetenzen für Forschung und Entwicklung, Fertigung sowie globale Geschäftsverantwortung. Das ist quasi eine Erfolgsstory „Made in Austria“, die zeigt, wie man sich von einer verlängerten Werkbank in den 70er-Jahren zum forschungsstärksten Unternehmen Österreichs mit rund 4.200 Beschäftigten entwickeln kann. Wir stellen mit knapp 1.800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern alleine in Forschung und Entwicklung knapp ein Viertel der konzernweiten F&E-Belegschaft. Als Innovationsfabrik im Konzern spricht die aktuelle Investition von 1,6 Milliarden Euro in eine neue, vollautomatisierte Chipfabrik für Leistungselektronik für das Know-how unserer Villacher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und das Vertrauen des Konzerns in den Standort.
Sie brauchen nicht nur bei der aktuellen Erweiterung hochqualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,sondern auch in „normalen“ Jahren. Wie finden Sie diese bzw. schulen und trainieren Sie diese selbst?
Die Investition in das Know-how und die Aus- und Weiterbildung unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist uns sehr wichtig, gleichzeitig tun wir viel, um den technischen Nachwuchs für uns zu begeistern. Wir sind bei Forschungskooperationen, Start-ups, in der Maker-Community und in MINT-Initiativen aktiv. Mit der Beteiligung an Stiftungsprofessuren, Master-sowie Doktorats-Programmen, dem „Infineon Hub“ an der TU Wien sowie den Summer & Winter Schools besteht eine breite Andockstelle, um Techniktalente, speziell auch Frauen, von uns zu überzeugen. Bei Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen verwenden wir beispielsweise das Prinzip 70–20–10. Das heißt: 70 Prozent des Lernens finden durch praktische Berufserfahrung, fachspezifische Aufgaben und Problemlösungen statt – also direkt am Arbeitsplatz. 20 Prozent werden durch die Interaktion mit anderen Personen gelernt. 10 Prozent des Lernens erfolgen im Rahmen einer formalen Ausbildung. Man weiß heute, dass Menschen sehr gut in dieser Systematik lernen und Gelerntes in die Praxis mitnehmen.
Gibt es Optionen auf Teilzeitstudien? Stipendien? Fortbildung und Zusatzqualifikationen?
Im globalen Match um Fachkräfte zählt heute ein attraktives Gesamtpaket. Flexible Arbeitszeitmodelle, Teleworking oder Sabbaticals sind bei uns gelebte Arbeitswelt. Ebenso wie die Weiterentwicklung von Jobprofilen 4.0 wie etwa der Data Scientist, Robotertrainer oder die Lehre 4.0. Bei unseren Lernformaten nutzen wir die Chancen der Digitalisierung ganz gezielt, um beispielsweise mobiles Lernen per App oder virtuelle Lerngruppen anzubieten. Wir wollen damit unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kontinuierlich fördern und sie ermutigen.
Wie wichtig ist Ihnen dabei, dass Sie auch Frauen mit technischen Qualifikationen ansprechen?
Sehr wichtig, weil Naturwissenschaften und Technik einerseits interessante Karrierewege gerade für Frauen eröffnen und wir außerdem den Pool an technischen Talenten gesamt erhöhen müssen. Ich verwende da gerne das Bild einer Decke. Die Frage ist nicht, wer zieht stärker an welcher Ecke. Das Ziel muss sein, die Decke zu vergrößern, das Grundpotenzial zu erhöhen. Wir setzen daher ganz bewusst Maßnahmen, um Mädchen so früh wie möglich für Technik zu begeistern. Aber es braucht auch einen gesellschaftspolitischen Wandel, sei es das Aufbrechen von Rollenklischees oder neue Didaktikansätze an Schulen und Universitäten. Uns ist genau diese Art von Diversität wichtig, deswegen gibt es da auch ganz klare Zielformulierungen in diese Richtung.
Was bedeutet das konkret?
Wir legen sehr viel Wert darauf, dass wir einen bestimmten Anteil von Frauen in allen Bereichen des Unternehmens haben – von der Lehrlingsausbildung bis hin zu den Führungskräften. Der Frauenanteil liegt aktuell bei 17 Prozent – das ist für ein technisches Unternehmen nicht untypisch, aber das ist natürlich noch nicht zufriedenstellend. An allen Infineon-Standorten weltweit ist die Entwicklung von Frauen in Führungspositionen einer der Schwerpunkte, dafür gibt es auch klar formulierte Ziele. Diversität bedeutet für uns aber generell, Menschen unterschiedlichen Alters, Geschlechts oder verschiedener Herkunft zusammenzubringen und von diesen unterschiedlichen Sichtweisen zu profitieren. Das zeigt auch unsere Beschäftigungsstruktur: Wir haben 25 Prozent internationale Beschäftigte aus 60 Nationen.
Es gibt in Ihrem Unternehmen harte ökonomische und auch technische Vorgaben. Anderseits brauchen gute, kreative Mitarbeitende Freiraum und Luft zum Atmen. Wie bringen Sie diesen Zielkonflikt in Balance?
Infineon Austria hat klare Führungsprinzipien und Instrumente geschaffen und entwickelt diese auch permanent weiter. Die Digitalisierung rüttelt dabei stark an bestehenden Führungskulturen, in der Führungsqualität 4.0 wird „Network Leadership“ statt hierarchisches Management gefragt sein. Bei Infineon sehen wir unsere Rolle als Unternehmensführung darin, Leitlinien vorzugeben, in deren Rahmen die Mitarbeiter möglichst autonom entscheiden sollen. Gleichzeitig bedeutet das jedoch nicht, dass sich Mitarbeiter und Netzwerke „von selbst“ führen.
Wie wirken Sie Tendenzen zur Bürokratisierung entgegen, die in größeren Organisationen entstehen? Wo sind Sie als Führungskraft persönlich gefordert?
Leader sind heute nicht mehr nur Richtungsweiser, sondern Vorbilder, Talentmanager und Coaches in einer Person. Das bedeutet auch, sich selbst kontinuierlich zu reflektieren, Raum für Kreativität und zugleich Sicher-heit zu schaffen, um sein Team zu Höchstleistungen anzuspornen. Führung muss sich daher vom Hierarchie denken hin zum Orchestrieren von Ökosystemen verändern. Wir investieren gezielt in Aus- und Weiterbildung. Das beginnt bei der Lehre 4.0, geht über Online-Schulungen in allen Bereichen bis hin zur Führungskräfteentwicklung. Bei allem aber stehen die Menschen bei uns im Mittelpunkt, denn sie sind mit ihrem engagierten, mutigen und nach vorne gerichteten „Mindset“ die Basis unseres Erfolges.
Als Österreicherin 1966 im bayrischen Pfarrkirchen geboren, aufgewachsen in Salzburg, pendelt Sabine Herlitschka beruflich und privat zwischen Villach, Wien und München. Sie ist verheiratet, begeisterte Vielleserin und liebt die Bewegung in der Natur. Sie studierte Lebensmittel-und Biotechnologie an der Universität für Bodenkultur in Wien, es folgten Doktorat und Postdoc in der industriellen Forschung eines internationalen Biotechnologie-Unternehmens sowie ein Abschluss als diplomierte Wirtschaftstechnikerin sowie ein MBA. Nach mehreren Stationen in der Forschungs- und Technologieförderung wurde sie 2012 Vorstand bei Infineon Austria, 2014 Vorstandsvorsitzende.