„Ohne Netzinfrastruktur gibt es keine versorgungssichere Energiewende“

Exklusivinterview mit Gerhard Christiner, Technischer Vorstand der Austrian Power Grid AG, über den Fortschritt der Energiewende, die System- und Versorgungssicherheit der Netzinfrastruktur, den Netzausbau u.v.m.
© TOP LEADER / Richard Tanzer
„Ohne Netzinfrastruktur gibt es keine versorgungssichere Energiewende“
Gerhard Christiner, Technischer Vorstand der Austrian Power Grid AG.

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Herr Christiner, die Austrian Power Grid AG (APG) ist der Betreiber des Übertragungsnetzes in Österreich, dessen Regelzone praktisch alle Bundesländer Österreichs umfasst. Mit einer Gesamtlänge von über 7.000 Kilometern sind die Leitungen der APG von entscheidender Bedeutung für die österreichische Stromversorgung. Welche unmittelbaren, aber auch strategisch langfristigen Ziele haben Sie sich gesetzt?

Die APG-Infrastruktur – Leitungen sowie Umspannwerke – und unsere digitalen Plattformen sind der zentrale Baustein für das Gelingen einer versorgungssicheren Energiewende. Für die Integration der Erneuerbaren braucht es eine wesentlich stärkere digitale Vernetzung aller Akteure sowie den Ausbau einer noch kapazitätsstärkeren – mit anderen Sektoren gekoppelten – flexiblen Netzinfrastruktur. Die Umsetzung unseres Netzentwicklungsplanes mit einem Investitionsprogramm von 9 Mrd. Euro bis 2034 legt dazu den Grundstein.

Sie sind seit über zehn Jahren (2012) Technischer Vorstand der Austrian Power Grid AG, sind bekannt für Ihr umfassendes technisches Knowhow und Ihre Problemlösungskompetenz. Haben Sie spezifische Erfahrungen aus ihrer beruflichen Anfangszeit, die Ihnen, retrospektiv betrachtet, speziell geholfen haben, um ein so großes Unternehmen zu führen?

Ich hatte das Glück in meinen ersten Berufsjahren mit starken Führungspersönlichkeiten aber auch exzellenten Experten zusammenzuarbeiten – von denen habe ich viel gelernt. Eines ist besonders wichtig: Egal in welcher Rolle oder Position man sich im Unternehmen befindet ist es wichtig, Aufgaben, die man bekommt, bestmöglich zu lösen bzw. gute Ergebnisse zu liefern.

Mir war auch immer wichtig, neue Herausforderungen proaktiv anzunehmen und gestalterisch tätig zu sein. Diese an sich logische Vorgangsweise versuche ich in der APG auf allen Ebenen umzusetzen. Daher ist es uns auch als Unternehmen gelungen, in der Stakeholderlandschaft als “Löser” aufzutreten. Darauf bin ich stolz.

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„Ohne Netzinfrastruktur gibt es keine versorgungssichere Energiewende“

Energiewende oder generell der gesamte Themenkomplex Nachhaltigkeit scheinen 2023 in aller Munde gewesen zu sein. Selbst als Laie stellt man sich die Frage, ob dieser Transformationsprozess, der einem Paradigmenwechsel gleicht, auch ganzheitlich durchdacht wurde. Warum werden strukturelle Probleme, wie der Ausbau der Netzinfrastruktur, negiert und kaum im öffentlichen Diskurs thematisiert?

Die Energiewende bzw. die Herausforderungen des Klimawandels wurden in der Öffentlichkeit niemals systemisch diskutiert. Man hat jahrelang die Erneuerbaren als “Filetstücke” vermarktet und die unangenehmen Notwendigkeiten einer stärkeren Netzinfrastruktur sowie deren Kosten außen vorgelassen.

Die Netzinfrastruktur war da im öffentlichen Diskurs nicht willkommen. Wir, als APG, sind aber draufgeblieben und langsam ernten wir die Früchte unserer jahrzehntelangen Arbeit: ohne Netzinfrastruktur gibt es keine versorgungssichere Energiewende. Das wird langsam „common sense“. Jetzt müssen wir “nur” noch in die Umsetzung kommen.

Wie sehen Sie persönlich den weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien in der österreichischen Energielandschaft – was sind die größten Herausforderungen, welche Grenzen gibt es und kann eine vollständige Energieautarkie, in einer globalisierten Welt, erreicht werden?

Der Ausbau erneuerbarer Energien hat in erheblichem Maße Fahrt aufgenommen, insbesondere im Bereich der Photovoltaik (PV). Jedoch mangelt es an einer integrierten Systemplanung, welche die Speichertechnologien, die Nutzung aller Flexibilitätsoptionen von der Industrie bis zum Elektroauto, sowie die Sektorenkopplung und selbstverständlich den Netzausbau berücksichtigt.

Es ist wichtig zu betonen, dass die Vorstellung einer nationalen Energieautarkie ein Trugschluss ist und niemals zielführend sein kann. Dies muss klar und deutlich ausgesprochen werden. Selbst wenn wir zukünftig – über das Jahr hinweg betrachtet – genauso viel erneuerbaren Strom produzieren wie verbrauchen, werden wir für den kurzfristigen Ausgleich im Austausch mit unseren europäischen Nachbarn stehen. Das ist auch gut so, denn alle Regionen in Europa sollen Ihre Assets in das Gesamtsystem einbringen. Nur dann kann eine versorgungssichere Energiewende auch leistbar werden.

Wenn Sie, hypothetisch gesprochen, die Möglichkeit hätten die Energiewende in Österreich im Alleingang zu organisieren und zu exekutieren – wie würde Ihr Schritt-für-Schritt-Plan aussehen?

Die Aufgabe der Übertragungsnetzbetreibers ist auf die systemischen Defizite hinzuweisen, die fachliche Expertise abzugeben, aber nicht vorzugeben wie was zu geschehen hat. Dies ist Aufgabe der Gesellschaft und Politik.

Jedenfalls braucht es ein koordiniertes Gesamtsystem, in dem Netze, Speicher, Reserven, Produktion und digitale Plattformen gut abgestimmt geplant und umgesetzt werden.

Erst vor kurzem haben Sie ein neun Milliarden schweres Investitionsprogramm der APG für den Zeitraum bis 2034 präsentiert. Sie haben darauf hingewiesen, dass das Bestandsnetz und die aktuellen gesetzlichen beziehungsweise energiewirtschaftlichen Rahmenbedingungen diesen Anforderungen nicht gewachsen sind. Was erwarten Sie nun von der Politik und den energieproduzierenden Unternehmen?

Ich erwarte von der Politik die nationale Umsetzung der RED III Richtlinie, welche zusätzliche beschleunigende Gesetzesbestimmungen für den Netzausbau enthält. Zudem ist ein neuer regulatorischer Rahmen erforderlich, um die hohen Investitionen abzusichern sowie die Digitalisierung bzw. Innovationen ins Stromnetz zu attraktiveren.

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Sie mussten dieses Jahr, als Unternehmen, welches für das Funktionieren des Hoch- und Höchstspannungsnetzes verantwortlich ist, sehr oft am Strommarkt eingreifen, um Stabilität zu gewährleisten. Was glauben Sie ist der Grund, warum die/Ihre bisherigen Warnungen, bezüglich der Unterdimensionierung der Netze, kein Gehör finden?

Wir sind für die Systemsicherheit und damit auch weitgehend für die Versorgungssicherheit verantwortlich. Wir weisen seit Jahren auf die systemischen Defizite und Schwachstellen im Netz hin – mehr als jeder andere energiewirtschaftliche Akteur in Österreich.

Letztendlich fehlt es aber noch immer am Gesamtsystemverständnis und damit an dem Grundkonsens in der Gesellschaft, dass eine kapazitätsstarke Netz- und Speicherinfrastruktur zentral für die versorgungssichere Energiewende ist.

Wie kann es sein, dass der Umbau der Erzeugungsseite schneller vor sich geht als netzseitig? Naiv gefragt – warum ist es überhaupt möglich, dass diese beiden Seiten die Energiewende „unabhängig“ voneinander angehen können?

Wie ich schon erwähnt habe: wir haben als Gesellschaft den Ausbau von Windkraft und PV genehmigungstechnisch gepusht und subventioniert, jedoch das Schwierige und Unangenehme – nämlich den Netzausbau – beiseitegeschoben. Die Rechnung zahlen wir jetzt mit Netzengpässen, Einspeisebeschränkungen und hohen Preisen.

Themenwechsel: Der Winter ist in Österreich, im Vergleich zu den letzten Jahren, früher angekommen. Ist unser aktuelles Stromnetz stark genug, um mit den Belastungen des Winters fertig zu werden?

Unsere Analysen zeigen, dass der aktuelle Winter von Seiten der Versorgungssicherheit als stabil bezeichnet werden kann. Extremereignisse ausgenommen, haben wir durch gefüllte Gasspeicher, die hohe Verfügbarkeit der Netzinfrastruktur, gute Kraftwerksproduktion in ganz Europa eine sehr gute Ausgangsposition.

Ich erwarte in diesem verbleibenden Winter kein Risiko einer Strommangellage in Österreich. Sollten Extremwetterereignisse z.B. Leitungsausfälle verursachen, so haben wir ein wirklich gut vorbereitetes Instandhaltungsteam, das derartige Ausfälle kurzfristig sanieren kann.

Worauf sollten sich Kunden (privat und betrieblich) in Zukunft einstellen? Wird es zu massiven Veränderungen beim Strompreis kommen?

Der Strompreis definiert sich über Angebot und Nachfrage. Wir als Übertragungsnetzbetreiber tun alles, um preisgünstigen Strom für Österreich mit unseren Investitionen ins Stromnetz zugänglich zu machen (u.a. mit Projekten wie die Salzburg- und Deutschlandleitung). Gleichzeitig muss aber auch das Angebot an erneuerbarer Energie in Österreich und Europa massiv steigen. Erst wenn uns beides gelungen ist, wird der Strompreis wieder sinken.

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Wie hat sich der Stromverbrauch auf privater und betrieblicher Seite seit der Corona-Pandemie entwickelt?

Formal wird eine Reduktion des Stromverbrauchs von rund 8% genannt. Gleichzeitig ist aber ein großer Anstieg an nichtberechenbarem Eigenverbrauch von PV-Strom zu konstatieren. Als Gesamtbild neige ich dazu, dass wir aktuell sogar etwas mehr Strom als vor Corona verbrauchen.

Im Gegensatz zum generellen Kanon sehen Sie das Merit-Order-System, zur Strompreisberechnung, nicht als überholt an. Kritiker bezeichnen es als statisches Beschreibungsmodell, welches für die kurzfristige und weniger für die langfristige Darstellung der Strompreisbildung geeignet ist. Warum sollte weiterhin das teuerste Kraftwerk den Preis für Strom bestimmen?

Die Frage des Marktdesigns ist eine politische Frage. Wir als Übertragungsnetzbetreiber haben dafür zu sorgen, dass genug Kapazität in der Netzinfrastruktur vorhanden ist, damit sich ein ausreichend liquider Strommarkt entwickeln kann. Dafür leisten wir mit unserem 9 Mrd. Euro Investitionsprogramm einen wesentlichen Beitrag.

Praktisch in jeder medialen Berichterstattung wird darauf rekurriert, dass die Energiepreise die Inflation weiter nach oben getrieben haben. Sehen Sie das auch so?

Wir müssen danach trachten, unsere Abhängigkeit von Gas zu reduzieren, nationale Erzeugungskapazitäten ausbauen und ausreichend Leitungskapazitäten verfügbar zu haben – in Österreich und Europa. Erst wenn wir diese Hausaufgaben erledigt haben, werden wir nachhaltig wieder Preisreduktionen sehen.

Hätte man, aus Ihrer Perspektive, irgendetwas besser machen können, um die Strompreisexplosion stärker abzufedern, oder glauben Sie, dass die ergriffenen Maßnahmen ausreichend waren?

Entscheidend ist, dass wir Leitungs- und erneuerbare Produktionskapazitäten umgehend erweitern. Wir müssen z.B. alle Fesseln bei Genehmigungsverfahren lösen. Die fehlende Diversifizierung ist die wahre Wurzel des Preisniveaus.

Ein kompromissloser ganzheitlich geplanter Systemausbau (Speicher, Netze, Reserven, Produktion, Digitalisierung) ist der Lösungsansatz, weil er das System optimiert. Bisher haben wir das System nicht verändert, sondern nur Symptome behandelt.

Wir möchten Sie gerne auch als Privatperson etwas näher kennenlernen, abschließend daher noch ein paar persönlichen Fragen:

Hatten Sie ein Vorbild, von dem Sie sich Dinge abgeschaut haben?

Meine Eltern waren für mich Vorbild und haben mich mit ihrer Leistungsbereitschaft sowie wertschätzenden und positiven Lebensweise den Menschen und der Natur gegenüber geprägt.

Gibt es etwas, das Sie schon immer ausprobieren wollten, sich bisher aber nicht getraut haben?

Nein, Herausforderungen, die mich reizen nehme ich in Angriff, jedoch gut überlegt und unter Abwägung der Chancen und Risiken.

Was macht Ihnen an Ihrem Job am meisten Spaß?

Im Bewusstsein zu agieren, einen positiven Beitrag für das Klima zu leisten und damit meinen Kindern und der nachfolgenden Gesellschaft mit gutem Gewissen begegnen zu können.

Welche Vorhaben möchten Sie unseren Lesern besonders ans Herz legen?

Unseren Netzentwicklungsplan bzw. alle darin aufgeführten Projekte sind für uns von höchster Relevanz.

Sie können EIN globales Problem lösen – welches wäre das?

Den Klimawandel stoppen.

Herr Christiner, wir wünschen Ihnen viel Erfolg für die Zukunft und herzlichen Dank für das Interview.

Danke Ihnen.

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