Bereits mehr als sieben Monate sind seit dem verheerenden Erdbeben in Syrien und der Türkei bereits vergangen. Es war ein Tag, der buchstäblich die Erde erzittern ließ. Mit einer Magnitude von 7,8 Mw (Momenten-Magnituden-Skala – Anm. d. Red.) im Südosten der Türkei und 7.6 im Nordwesten Syriens und im Süden der Türkei hat sich innerhalb von Sekunden das Leben von zehntausenden Menschen schlagartig verändert.
Insgesamt sind mehr als 59.000 Menschen ums Leben gekommen und es wurden knapp 125.000 Verletzte registriert. Über drei Millionen Menschen wurden obdachlos und leben immer noch in Notquartieren, die für eine längerfristige Unterbringung unzureichend sind.
Mein Name ist Marcus Bachmann und ich bin seit über 15 Jahren, davon viele Jahre als Einsatzleiter, in Krisen- und Konfliktgebieten, bei “Ärzte ohne Grenzen Österreich“ tätig.
Krise ist nicht vorüber
Generell ist das internationale Interesse stark abgeflacht, doch hat sich die Situation der Menschen nicht maßgeblich verbessert. Viele Menschen wohnen nach wie vor in Zelten. Essen und Wasser sind knapp. Vor allem die Hygienebedingungen bereiten unseren Teams vor Ort große Sorgen. Sie befürchten Ausbrüche von Infektionskrankheiten aber auch das Wiederaufflammen der Cholera-Epidemie.
In Syrien unterstützen wir 32 Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen mit medizinischem Personal, Medikamenten und medizinischem und logistischem Material. Wir haben mobile Kliniken eingerichtet und stellen psychologische Betreuung bereit. Tausende obdachlos gewordenen Menschen, die wir nach den Erdbeben mit Decken, Hygiene-Paketen, Zelten, elektrischen Öfen und Lebensmitteln versorgt haben, unterstützen wir weiter. Prioritär widmen wir uns dem Bereich Wasserversorgung und Hygiene.
In der Türkei haben wir ebenso lokale Partnerorganisationen unterstützt, die weiterhin dringend notwendige psychologische Unterstützung sowohl in den Notlagern als auch in den Dörfern und Städten anbieten.
Einsatzgliederung in vier Phasen
Um einen Einblick in die Organisation und Struktur von Katastropheneinsätzen zu geben wollen wir ihnen unser Einsatzprozedere vorstellen – der Einsatz gliedert sich in vier Phasen:
Phase 1 – Die akute Hilfe
Die ersten 48 Stunden nach einer Katastrophe, wie bei den Erdbebeneinsätzen in Syrien und der Türkei, sind entscheidend. Aufgrund der prekären Lage im Nordwesten Syriens sind wir vor Ort bereits seit über zehn Jahren tätig und konnten sofort helfen. Unsere 450 Einsatzkräfte haben Sekunden nach den Beben ihren Einsatz gestartet.
Phase 2 – Deckung der Grundbedürfnisse
Die Tage danach offenbaren, welcher Schaden verursacht wurde, wie viele Todesopfer und Verletzte es gibt und wie viele Menschen kein Dach mehr über dem Kopf haben. Die Suche nach Überlebenden wird Großteils eingestellt und die Grundversorgung von Essen, Wasser, Unterkünften, Decken und notwendigen Medikamenten wird priorisiert.
Es schweben immer noch viele Menschen in Lebensgefahr und unsere Unterstützung verlagert sich zusehends auch auf die örtliche medizinische Infrastruktur. Krankenhäuser sind überlastet, da sie nicht genug Betten, Equipment und Personal für die vielen Verletzten haben.
Phase 3 – Epidemieprävention
Einige Monate nach den Erdbeben leben viele der Menschen nach wie vor in Zeltstädten. Der Wiederaufbau ihrer Häuser wird Jahre dauern. Es gibt zu wenige Sanitäranlagen für zu viele Menschen in den Lagern und auch nicht genug sauberes Wasser. Wenn viele Menschen auf engem Raum leben, steigt das Risiko von Krankheitsausbrüchen. Wir sind auf solche Szenarien vorbereitet und haben hierfür Notfallpläne. Aus Erfahrung weiß ich, dass obwohl die Erdbeben vorbei sind, die Menschen unsere Hilfe noch lange in Anspruch nehmen werden.
Phase 4 – Physische und psychische Heilung
In mobilen Kliniken behandeln unsere Teams Patient:innen. Menschen, die schmerzhafte und komplizierte Verletzungen wie Trümmerbrüche erlitten haben oder eine Amputation hinter sich haben, brauchen jetzt Physiotherapie und Reha-Einheiten. Viele Menschen kommen ebenso wegen chronischer Beschwerden, wie Diabetes oder Bluthochdruck, da die örtliche medizinische Grundversorgung nicht mehr gewährleistet ist. Nur durch externe Hilfe können langfristige Beschwerden verhindert und die Lebensqualität der Opfer erhöht werden.
Gleichsam wichtig ist die Heilung der psychischen Wunden. Ereignisse wie ein Erdbeben lösen Traumata aus, die das Leben der Betroffenen einschränken – manchmal sogar gefährden. Wir helfen den Menschen, das Erlebte zu verarbeiten und Traumata zu überwinden. Das ist ein Prozess, der noch viele Monate, oft Jahre dauern wird.
Hilfe hat kein Ablaufdatum
„Manchmal werde ich gefragt, warum wir immer noch Erdbebenhilfe leisten, obwohl die Erdbeben ja schon gut sieben Monate zurückliegen? Die Antwort ist immer die Gleiche: Ein solcher Einsatz kann Monate oder Jahre dauern und es ist notwendig die Menschen zu sensibilisieren und aufzuklären. Nur weil die mediale Berichterstattung schwindet und eine neue Krise im Mittelpunkt steht, lösen sich die Probleme der lokalen Bevölkerung nicht in Luft auf. Unsere Kolleg:innen in Syrien und der Türkei erleben Tag für Tag, dass die Menschen auch weiterhin dringend Hilfe benötigen“, verdeutlicht Marcus Bachmann abschließend.
Hier können Unternehmer:innen „Ärzte ohne Grenzen“ durch eine Spende helfen.
Autor: Marcus Bachmann