Das SOS-Kinderdorf lag am Rand des Flughafens Tan Son Nhut bei Saigon, damals die größte Militärbasis der Welt – gefüllt mit unfassbar vielen Kriegswaisen.
Ende März 1975 begannen die amerikanischen Evakuierungsflüge für das südvietnamesisches Zivilpersonal und deren Familien aus den großen Stützpunkten Da Nang und Khe San zurück nach Saigon. Hysterische Menschentrauben klammerten sich an die riesigen Galaxy-Transportmaschinen. Manchen gelang es, im Räderwerk unterzuschlüpfen, wo sie während des Flugs, bei Minusgraden, in den Fahrschächten erfroren. Beim Anflug auf Saigon fielen sie als menschliche Eisklumpen auf die Landebahn – so ein Anblick geht einem nie wieder aus dem Kopf.
Das war aber noch längst nicht alles. Am 4. April, desselben Jahres, kam die Katastrophe der Operation „Babylift“, mit welcher vorwiegend Kriegskinder farbiger US-Soldaten eilig außer Landes gebracht werden sollten, weil sie in der vietnamesischen Gesellschaft keine Chance hätten. Beim Start stürzte eine Galaxy ab, da in der Hektik ein Schließbolzen vergessen wurde. In dem Feuerball verbrannten 155 Babys.
Das schreckliche Ende eines schrecklichen Kriegs
30. April 1975: Mit dem Durchbruch eines nordvietnamesischen Panzers durch den Zaun des Präsidentenpalastes war das Ende des Vietnamkriegs gekommen. Im Monat zuvor vollzog sich der Untergang Saigons in irrwitzigem Horror und bizarr-realen Albträumen.
Der Vietcong als Ableger Nordvietnams hatte im März begonnen, Südvietnam zu überrennen. US-Kampftruppen waren seit dem Henry-Kissinger-Abkommen von 1973 nicht mehr im Land. Das war nichts anderes als ein gesichtswahrender Ausstieg aus dem Krieg ohne offene Niederlage auf dem Schlachtfeld. Dafür gab es den Friedensnobelpreis.
In Folge des Abkommens existierte nun eine Vietcong-Botschaft(!) in der südvietnamesischen Hauptstadt. Bei den täglichen Briefings, während der sogenannten Schlacht um Saigon, im Presseamt der südvietnamesischen Armee – dort wurde das Blaue vom Himmel gelogen – brachten die südvietnamesischen Busse der Armee die Journalisten zur Vietcong-Botschaft. Dort erfuhr man die tatsächliche Lage.
Gegen Ende des Monats löste sich das Hauptpostamt auf. Dort, wo man kurz vorher noch für 20 Dollar einen Nylonsack voll mit südvietnamesischen Dongs bekam, lag nun in den leeren Hallen das wertlose Geld am Boden verstreut herum. In den hinteren Räumen, wo gewöhnlich die Fernschreibgeräte im Hochbetrieb höllischen Lärm machten: gespenstische Ruhe, kein Personal. Alles stand frei zur Selbstbedienung. Man konnte sogar mitten im Krieg das Hauptpostamt Wien anschreiben und sich mit der Redaktion verbinden lassen – dank des US-Satelliten über Saigon…

Ende des Monats brach in Saigon Angsthysterie aus, verursacht von den ersten Nachrichten der Gräuel der „roten Khmer“ im Nachbarland Kambodscha. Flüchtlinge überfüllten die Stadt. Die Regierung verhängte eine Ausgangssperre und trieb die Menschen mit Schüssen von den Straßen. Durch langsames Vorantasten entlang der Hauswände gelang ich zum Büro der südvietnamesischen Fluggesellschaft. Dort war man gerade beim großen Zusammenpacken. Mir fiel die vermeintlich dümmste aller Fragen ein: „Gibt es noch einen Flug?“ „Ja, um 16 Uhr. Wir fliegen die letzten Maschinen nach Bangkok aus. Ja, sie können mitfliegen, kostenlos“. Ich blieb gleich dort sitzen und ließ alles andere zurück. Im Militärkonvoi durch eine Stadt die vermeintlich dem Untergang geweiht ist: Die Front war schon ziemlich nahe am Flughafen. US-Personal hielt den Betrieb aufrecht, während das südvietnamesische Militär mit der Abwehr von Flüchtlingen beschäftigt war, die das Flugfeld zu stürmen drohten. Amerikanische Helikopter brachten vom Dach der US-Botschaft das diplomatische Personal zum Flughafen. Andere Helikopter flogen Flüchtlinge zu US-Flugzeugträgern vor der Küste.
Gibt es etwas Irrwitzigeres, als in diesen Stunden in einer halbleeren Boeing aus Saigon auszufliegen, während sich unten Tausende Einheimische vergeblich um eine letzte Fluchtmöglichkeit drängen? Zehntausende Menschen verschwanden später in stalinistischen Umerziehungslagern.
Ankunft in Bangkok. Mit den letzten Dollars und, zugegeben, einem ziemlich derangierten Zustand bewegte ich mich zur österreichischen Botschaft. Am Tor zeigt sich ein österreichisches Antlitz: „Wos woin se?“ „Ich komme aus Saigon“ „Na und?“
Nach dem Untergang die Wiederauferstehung
Nach dem „Ende im Schrecken“ senkten sich zwanzig Jahre Finsternis über die, nunmehr in Ho-Tschi-Minh-Stadt, umbenannte Stadt. Gleichzeitig kam es nach Maos Tod zu einer Haltungsänderung Chinas gegenüber Vietnam. Es folgte ein kurzer Grenzkrieg – und dafür musste die historische chinesische Minderheit in Vietnam büßen. Sie traf eine humanitäre Katastrophe, die als „Boatpeople“ Schlagzeilen gemacht hat: Die Menschen wurden ins offene Meer hinausgetrieben.
Das Zerwürfnis mit China führte im vereinten Vietnam schließlich auch zu einer politischen Kehrtwende um 180 Grad, zu einem Salto sondergleichen: Aus dem „Ami raus aus Vietnam!“, welches zehntausende Vietnam-Marschierer im Westen heruntergeleiert hatten, wurde ein „Ami komm zurück!“. Die kommunistische Führung schwenkte Anfang der 1990er Jahre zur kapitalistischen Marktwirtschaft um – im Gegensatz zu Nordkorea seit dem Koreakrieg.
Saigon, pardon: Jetzt Ho-Tschi-Minh-Stadt, erlebte eine fantastische Wiederauferstehung als Kult-Metropole Südostasiens.
So sinnlos sind Kriege.
Erstveröffentlichung Kronen Zeitung
Autor: Kurt Seinitz