Netanyahu und Erdoğan, nicht gerade Freunde, nehmen beide für sich in Anspruch, einen „neuen Nahen Osten“ geschaffen zu haben. Jeder auf seine Weise.
Erst Israels Ausschaltung der libanesischen Hisbollah und Schwächung des Iran hatte Erdogan ermöglicht, „seine“ Anti-Assad-Milizen gegen Damaskus von der Leine zu lassen. Der türkische Präsident hatte seinen Intimfeind Assad wiederholt einen „Mörder“ genannt und mehr als drei Millionen Flüchtlinge in seinem Land aufgenommen. Die können/sollen jetzt zurückkehren.
Die nächsten Schritte in Syrien hängen davon ab, ob sich die verschiedenen Milizen auf eine Verteilung der Macht einigen können oder ob ein Machtvakuum zu neuer Gewalt führt und Syrien mit seinen ethnischen und religiösen Minderheiten im Chaos versinkt. Was in dem Land nach Assads Sturz geschieht, könnte neue Konflikt in der Region auslösen. Viele Gebiete Syriens sind noch immer außerhalb der Kontrolle der neuen Machthaber in Damaskus. Auch die gemäßigte Sprachregelung hat sich noch nicht überall durchgesetzt.
Der neue Ordnungsfaktor in Syrien heißt Erdoğan
Er arbeitete schon seit dem früheren Bürgerkrieg mit Rebellengruppen gegen seinen Intimfeind Assad zusammen.
Die Türkei ist NATO-Mitglied. Bedeutet das, dass das westliche Verteidigungs(!)-Bündnis in einem Drittstaat interveniert hat, um seinen Einfluss auf ein weiteres Land auszudehnen? Keineswegs, denn Erdogan hat die NATO wie üblich nicht gefragt. Erdoğan folgt seiner neo-osmanischen Ideologie und Damaskus ist für ihn dabei ein historischer Boden. Jedoch könnte Israel Erdogan seinen Einfluss in Syrien bald streitig machen.
Erdoğans Unterstützung gegen das Assad-Regime hat einen Preis. Er fordert, dass die Kurden bzw. ihre Miliz in Syrien unter Kontrolle gebracht werden. Diese hatten sich im Osten Syriens an der türkischen Grenze einen autonomen Raum geschaffen. Sie haben enge Verbindungen zu den USA, weil sie die Hauptlast bei der Bekämpfung des IS-Kalifats trugen. Washington hielt zumindest bisher die schützende Hand über dem syrischen Kurdengebiet. Erdoğan wirft den syrischen Kurdenmilizen vor, mit der kurdischen PKK in der Türkei unter einem Hut zu stecken. Kündigt sich da die nächste militärische Auseinandersetzung an? Ankara will die kurdischen Selbstverteidigungskräfte bis zum Euphrat zurückdrängen.
Israel hat jetzt „Freiflug“ zu Irans Atomanlagen
Israel geht jedenfalls auf Nummer sicher und hat im Handstreich mit über 480 Luftangriffen in den letzten Tagen die gesamte syrische Militärmacht aus Assads Zeiten vernichtet: Luftwaffe, Flotte, Munitionslager, Giftgaslabors etc. Aus Vorsicht, denn man kann ja nie wissen.
Damit ist aber auch die Luftabwehr im Flugkorridor von Israel in den Iran ausgeschaltet. Israel hat jetzt die iranischen Atomanlagen im Auge, die kurz vor der Produktion von Atomwaffen stehen. Als Reaktion auf ihre strategische Schwächung haben die Machthaber in Teheran die Beschleunigung des Atomprogramms angekündigt. Israel hat im Handstreich aber auch die UNO-Pufferzone auf den Golanhöhen besetzt bis hinaus zum Berg Hermon (mit Fernsicht auf das 40 Kilometer entfernte Damaskus). Begründung: Auf der syrischen Seite ist die reguläre Armee als Vertragspartner verschwunden und Milizen könnten vorstoßen. Die Verletzung des 1974 von Henry Kissinger ausgehandelten Truppenentflechtungsabkommen missachtet den syrischen Nationalismus und stößt in der UNO, darunter die USA, auf Kritik. Es wird die Wiederherstellung gefordert. Wird sich Israel unter Netanyahu je wieder zurückziehen?
Nur ein stabiles Syrien kann das Flüchtlingsproblem lösen
Erdoğan weiß, dass die Lösung des Flüchtlingsproblems erst dann wirklich gelingen kann, wenn im Nach-Assad-Syrien eine relative Stabilität hergestellt ist. Die verschiedenen Anti-Assad-Kräfte einte nur der Hass auf den gemeinsamen Feind. Über die Zukunft haben sie verschiedene Ansichten und Pläne. Der (relativ) starke Mann unter den Gruppen, Ahmed al-Sharaa (Kampfname Abu Mohammed al-Golani) muss die Dschihadisten, Islamisten und andere Extremisten kaltstellen (die sich bereits auf einen „Weitermarsch nach Jerusalem“ eingeschworen haben).
Nur eine relative Sicherheit in Syrien kann Anreize zur erhofften Rückkehr von Flüchtlingen vermitteln, meint ein türkischer Syrien-Experte. So habe seiner Ansicht nach die zweitgrößte Stadt des Landes, Aleppo, die nötige Infrastruktur, um Rückkehrer aufzunehmen. Die meisten der rund drei Millionen Flüchtlinge in der Türkei kommen aus Aleppo.
Erstveröffentlichung Kronen Zeitung
Autor: Kurt Seinitz