Es war die erste Rede und es war eine umfassende Rede. Situationsgemäß hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit Corona begonnen und die schnelle Einigung beim Wiederaufbaupaket hervorgehoben. Es ist in der Tat beachtlich, was hier in der Europäischen Union auf den Weg gebracht worden ist.
Zugleich gilt es aber, konsequent weiterzudenken und zu handeln: einen koordinierten Ansatz bei allen Corona Maßnahmen, sowohl im Gesundheitsbereich als auch im Reiseverkehr. Binnenmarkt und Schengen müssen wiederhergestellt werden, nachhaltige Zukunftsinvestitionen angegangen, Fokus auf Digitalisierung und Ausbau der Infrastruktur sowie den Aufbau einer Datenwirtschaft und einen Rahmen für Künstliche Intelligenz gelegt werden.
Ganz entscheidende Prioritäten
Daneben wird der Fokus auf den sozialen Bereich (europäischer Mindestlohn) gelegt, wobei erfreulicherweise das nationale Kollektivvertragsrecht ausdrücklich erwähnt worden ist.
Der Ausbau eines voll funktionierenden Binnenmarktes mit Abbau von Bürokratie und Erweiterung dieses Binnenmarktes im Bereich der Digitalisierung, der Energie und auch des Kapitalmarktes wurden genannt und sind tatsächlich auch aus meiner Sicht ganz entscheidende Prioritäten.
Einen großen Stellenwert nimmt auch der sogenannte „Green Deal“ ein. Ich bin allerdings sehr skeptisch, dass das angestrebte Ziel im Jahr 2030 an Stelle einer Reduktion von CO² von 40 Prozent eine solche von 55 Prozent zu erreichen realistisch ist. Ehrlich gesagt: Ich glaube es nicht und ich halte auch die Vorgangsweise dazu nicht für optimal. Politik kann natürlich Ziele formulieren, aber ohne die Einbindung aller Stakeholders wird die Umsetzung kaum gelingen.
Ein Plädoyer für Circular Economy
Wenn die Europäische Union dieses Reduktionsziel von 50 Prozent bis 2050 tatsächlich erreichen will, ist dazu ein Masterplan mit 30 konkreten Jahresteilzielen erforderlich, der zwischen Politik, Wirtschaft und den Konsumentenvertretungen abgestimmt ist. Ohne das Bewusstsein der Konsumenten kein entsprechendes Handeln der Betriebe, die Politik muss legistische Rahmenbedingungen und Anreize dafür setzen. Auf diese Weise kann man sich zu diesem Ziel bekennen, ja es sogar noch erweitern: Die Kreislaufwirtschaft „Circular Economy“ geht weit über das CO²-Reduktionsziel hinaus und eröffnet eine völlig neue Philosophie des Wirtschaftens: Ressourcen, die gebraucht werden, sollen nach dem Gebrauch wieder in den Kreislauf zurückgeführt werden. Eine solche Strategie hätte auch eine gewaltige Innovationskraft und könnte Europa an die Spitze einer weltweiten Entwicklung setzen.
Ähnliches gilt auch für Digitalisierung. Von der Leyen hat eine „Digital Decade“ ausgerufen, verbunden mit einer echten Datenwirtschaft, einer europäischen Cloud, künstlicher Intelligenz und einem Breitbandausbau.
Diese Digitalisierung sollte ebenfalls von den Praktikern mitbegleitet werden. Dazu gibt es den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, der neben dem Europäischen Rat, der Kommission und dem Parlament der vierte Stützpfeiler der EU-Verfassung ist. Dort vertreten sind Arbeitgeber und Arbeitnehmer, beide von der digitalen Entwicklung massiv betroffen, beide könnten in Kooperation konkrete Konzepte entwickeln, wie Digitalisierung eine Chance wird und keine Bedrohung darstellt. Insbesondere geht es auch darum, kleinere und mittlere Betriebe nicht aus Wertschöpfungsketten herausfallen zu lassen, aber auch jedem einzelnen Mitarbeitenden in den Unternehmungen das Gefühl zu geben, dass er weiß, welche Anforderungen in der Zukunft an ihn gestellt werden und was er tun muss, um diese Anforderungen auch tatsächlich erfüllen zu können.
Brexit – und China!
Von der Leyen ist schließlich auf die Partnerschaften mit anderen Teilen der Welt eingegangen und hat sich insbesondere skeptisch bezüglich eines Abkommens mit Großbritannien geäußert. Tatsächlich sieht es so aus, als ob entgegen jeglicher Vernunft Großbritannien ein Abkommen grundsätzlich ablehnt. Ob das nur ein Pokerspiel ist oder ob damit Ernsthaftigkeit verbunden ist, werden schon die nächsten Tage zeigen.
Interessant ist, dass mit China intensive Verhandlungen mit dem Ziel eines Investitionsabkommens im Laufen sind und dass dies die Auseinandersetzung zwischen China und den USA durch einen europäischen Mitspieler nicht unwesentlich beeinflussen könnte. Aber auch innerhalb Europas wird die europäische Kommission aktiv, insbesondere am Westbalkan soll die Abhängigkeit von Dritten durch eigene europäische Initiativen vermindert werden.
Insgesamt kann diese Erklärung von Ursula von der Leyen als ermutigend empfunden werden, wenn auch die einzelnen Ziele, die von ihr genannt worden sind, noch viel professionelle Arbeit unter Einbindung aller Beteiligten erforderlich machen.
Hinweis der Redaktion:
Apropos China: Mit großer Freude hat TOP LEADER die freudige Nachricht aufgenommen, dass das spektakuläre Buch unseres Co-Herausgebers Christoph Leitl, „China am Ziel – Europa am Ende?“ schon nach wenigen Wochen bereits IN ZWEITER AUFLAGE erschienen ist. Klare Leseempfehlung! Verlag ecowin, ISBN: 978-3-7110-0256-3, € 20.-
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