Seit Jahren raten Banker und andere Finanzprofis ihren Kunden dazu, US-Aktien gegenüber europäischen Titeln zu favorisieren. Zumal der US-Markt als dominierende Kraft der Weltwirtschaft gilt. Doch zunehmende politische Unsicherheiten – insbesondere Donald Trumps laufende Zoll-Androhungen und eskalierende geopolitische Spannungen – verunsichern Investoren und führen zu volatilen Aktienmärkten.
So fiel der Kurs der New Yorker Tech-Börse Nasdaq am 10. März dieses Jahres um vier Prozent und erreichte damit seinen schlechtesten Wert seit 2022. Der Gesamtwert der US-Börsen ist seit Mitte Februar um ganze vier Billionen Dollar geschrumpft.
Inmitten dieser schwierigen Lage präsentieren sich die europäischen Märkte bisher überraschend resilient und könnten sich als einer der großen Gewinner dieser Zeit herauskristallisieren. Der Stoxx600, welcher die 600 größten börsennotierten Unternehmen Europas umfasst, erreichte Anfang des Jahres Rekordhöhen und übertraf damit den S&P500. Besonders Small- und Mid-Cap-Aktien zeigen sich widerstandsfähig, während Märkte wie Skandinavien und Polen, die bislang wenig Beachtung fanden, nun als interessante Investmentmöglichkeiten in den Vordergrund rücken.
Sind die aktuellen Entwicklungen Vorboten einer neuen Wirtschaftsordnung, an deren Spitze nicht mehr die USA stehen, oder handelt es sich um eine temporäre Phase? Und was sollten Anleger beachten, die ihr Portfolio umstrukturieren möchten und die europäischen Anteile erhöhen wollen?
Hans Selleslagh, Österreich-Sprecher bei Freedom24, erklärt, warum europäische Small- und Mid-Cap-Unternehmen als „Hidden Champions“ gelten und welche Branchen sowie Märkte die vielversprechendsten Renditeaussichten bieten.
„America First“ – Der Anfang vom Ende amerikanischer Marktdominanz?
Entgegen den Erwartungen eines Börsenbooms nach Donald Trumps Wiederwahl gerieten US-Aktien nach einem kurzen Aufschwung massiv ins Straucheln. Besonders betroffen ist der Technologiesektor.
„Großkonzerne wie Nvidia, Apple und Tesla stehen unter Druck – Handelszölle und gestörte Lieferketten treffen sie empfindlich“, erklärt Hans Selleslagh.

Die Produktionskosten von Apple seien durch die neuen Zölle auf chinesische Waren drastisch gestiegen. Auch Nvidia fertigt essenzielle Bauteile im Ausland und riskiert Einbußen. Neben dem Technologiesektor leiden auch Automobilindustrie, Einzelhandel und Landwirtschaft unter den Handelsrestriktionen.
„Die Frage ist nicht nur, wie sich die US-Märkte kurzfristig entwickeln, sondern ob die USA ihre wirtschaftliche Vormachtstellung langfristig halten können. Die Politik der Abschottung nach dem Motto „America First“ schadet nicht nur der US-Binnenwirtschaft, sondern auch der internationalen Wahrnehmung des Landes als verlässlicher Handelspartner. Dennoch: der Technologiesektor der USA bleibt führend, die Unternehmensgewinne sind stark und der Status des Dollars als Weltreservewährung solide. Entscheidend wird sein, wie sich konkurrierende Märkte positionieren und ob sie diese Dominanz langfristig herausfordern können“, betont Hans Selleslagh.
Comeback Europas?
Angesichts der anhaltenden Herausforderungen der US-Wirtschaft zieht es immer mehr Anleger zu europäischen Märkten hin, die aktuell mit attraktiven Bewertungen locken. Der Stoxx600 wird aktuell mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von 13 gehandelt – verglichen mit 22 beim amerikanischen S&P500. Europäische Aktien werden also deutlich günstiger bewertet, was angesichts eines erwarteten Gewinnwachstums von zehn bis zwölf Prozent nicht gerechtfertigt ist.
Dennoch birgt der Markt auch erhebliche Risiken:
„Der Abschwung in der deutschen Industrie – sichtbar durch den Abbau von rund 60.000 Stellen im letzten Jahr – sowie Frankreichs steigende Staatsverschuldung könnten das weitere Wachstum ausbremsen. Auch Donald Trumps Drohung mit Strafzöllen auf europäische Waren bleibt eine Unbekannte. Trotzdem gibt es klare Chancen für Anleger, die ihr Portfolio umschichten möchten. Wer gezielt in stabile Branchen und Wachstumssektoren investiert, kann profitieren.“
Sind Europäische SMID Caps die neuen Hidden Champions auf dem Aktienmarkt?
Besonders europäische Small- und Mid-Cap-Aktien (SMID Caps) haben sich im Zuge der politischen und wirtschaftlichen Unsicherheiten als widerstandsfähig erwiesen.
„Diese Unternehmen kombinieren die Agilität kleiner Firmen mit der Stabilität etablierter Konzerne und sind oft weniger von globalen Handelsschocks betroffen“, so der Experte.
Dies zeigt sich unter anderem daran, dass deutsche und skandinavische Mid-Caps trotz der allgemeinen Schwäche in der Industrie weiterhin florieren. Ein Beispiel für ein bislang unterschätztes Unternehmen ist Alfen N.V. aus den Niederlanden, das auf intelligente Stromnetze spezialisiert ist.
Auch das dänische Biotech-Unternehmen ChemoMetec A/S, das mit einer Bruttomarge von 40 Prozent und einer schuldenfreien Bilanz aufwartet, blieb für viele Investoren bisher unter dem Radar und besitzt somit noch erhebliches Potenzial.
In Deutschland wiederum wird der Hensoldt AG, einem führenden Unternehmen in Radar- und Sensortechnologie, noch nicht die ganz große Beachtung geschenkt, obwohl es seit März ein Wachstum von 22 Prozent erzielt hat.
Skandinavien und Polen – Märkte voller Potenzial
Die Investitionsmöglichkeiten in Europa sind ebenso vielfältig wie die Kulturen. Daher ist es, laut Hans Selleslagh, entscheidend gezielt Märkte mit starken Wachstumsprognosen und Stabilität zu identifizieren.
Vorreiter sind hier einmal mehr die nordischen Staaten: Schweden, Dänemark und Norwegen bieten aufgrund niedriger Staatsverschuldung und ihrer Führungsrolle in Technologie und erneuerbaren Energien großes Potenzial.

„Schweden profitiert von einem dynamischen Startup-Ökosystem, und Dänemark ist führend in der Windenergie“, konstatiert der Österreich-Sprecher des Online-Brokers Freedom24.
So übertraf der MSCI Nordic Countries Index 2025 alle anderen europäischen Benchmarks. Gleichzeitig erweist sich Polen als Geheimtipp. Mit einem BIP-Wachstum von 3,2 Prozent und stabilen Währungskursen profitiert das Land vom Nearshoring-Trend. Der WIG20-Index, der die 20 größten börsennotierten Unternehmen Polens umfasst, wird mit einem KGV von 11 als attraktiv bewertet.
KI, Erneuerbare Energien und Rüstung
In Bezug auf zukunftsträchtige Branchen in Europa hebt Hans Selleslagh besonders den Sektor der erneuerbaren Energien hervor, der durch die ambitionierten Netto-Null-Emissionen-Ziele Europas und die 500-Milliarden-Euro-Finanzierung des Green Deals unterstützt wird:
„Dieser Sektor ist besonders resistent gegen globale Handelsschocks.“
Auch der europäische Technologiesektor, mit einem Fokus auf KI und Halbleiter, zeigt starke Wachstumsprognosen und ist weniger von Handelskrisen mit China betroffen als die US-Industrie. So soll der europäische KI-Markt bis 2027 jährlich um 20 Prozent wachsen. Schließlich sichern geopolitische Spannungen auch stabile Regierungsaufträge für die Verteidigungs- und Luftfahrtindustrie, während Unternehmen im Gesundheitswesen und in der Pharmaindustrie – wie die Schweizer Giganten Novartis und Roche oder Dänemarks Novo Nordisk – weiterhin eine starke Marktstellung behaupten.
„Europa wird die US-Wirtschaft nicht über Nacht ablösen – die 28 Billionen Dollar starke US-Wirtschaft, die Technologie-Giganten und der Status des Dollars als Weltreservewährung bleiben bestehen. Doch die aktuellen Entwicklungen könnten den Beginn einer fundamentalen Verschiebung im globalen Anlagefokus darstellen“, ergänzt der Freedom24-Experte abschließend.
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