Israel will die Geiseln frei bomben – Kritiker bezweifeln Erfolg
Das Einzige, was Israels Koalition zusammenhält, ist die Hamas in die Hölle zu bomben. Das Einzige, was arabischen Staatslenkern bei der Diskussion über die Zukunft des Gazastreifens nicht ein Wort wert ist, ist die Rolle der Hamas.
Wenn also beide Seiten der gleichen Meinung sind, Hamas zu begraben, weshalb muss dann im Gazastreifen noch so viel gestorben werden, so viel Leid über die Menschen kommen, so viel vernichtet werden? Zukunftspläne gibt es genug, doch der Teufel steckt bekanntlich im Detail und der nahöstliche Krisenknoten ist schier unentwirrbar. Aber der Reihe nach:
Variante 1: Israel räumt den Gazastreifen. Für die Regierung unvorstellbar! Ganz im Gegenteil: Israel zieht zurzeit breite Schneisen durch die Ruinenlandschaft und teilt das Gebiet von der Größe Wiens mit zwei Millionen Palästinensern in sogenannte Sicherheitszonen zur Dauerkontrolle. Laut Verteidigungsminister Katz wird Israel dauerhaft die militärische Kontrolle über eine Pufferzone behalten.
Einen Rückzug aus Gaza würde Netanyahus Regierungskoalition nicht überleben und Netanyahu wahrscheinlich auch keine Neuwahlen. Unter diesen Umständen findet die Regierung auch keine andere internationale Autorität, welche für Israel Sicherheitsaufgaben übernehmen würde.
Variante 2: Internationale Wiederaufbaukonferenz. Auf dem Dialog-Forum im türkischen Antalya skizzierten drei arabische Führer aus Israels Nachbarschaft – Ägypten, Jordanien, Palästina – mit ihrem türkischen Amtskollegen Überlegungen über die Zukunft von Gaza.
Alle sind sich einig, dass ein Transfer der Palästinenser aus dem Gazastreifen nicht in Frage kommt, auch nicht „freiwillig“. Der türkische Außenminister Hakan Fidan: „Erst das Territorium unbewohnbar machen und dann eine freiwillige Ausreise anbieten: Wie kann man so etwas freiwillig nennen?“
Ägyptens Außenminister Badr Abdelatty spricht einmal mehr als der unentwegte Vermittler. Er präsentiert den detaillierten Plan einer internationalen Wiederaufbaukonferenz in Kairo nach einem Waffenstillstand, „um den Palästinensern ein Leben auf ihrem Territorium möglich zu machen“.

Variante 3: Alternativen zur Hamas: Der ägyptische Außenminister bringt als Ordnungsfaktor in Gaza Technokraten ins Spiel, „die mit keiner der Fraktionen dort verbunden sind – also statt Hamas. Nachsatz: „Ja, es gibt solche“.
Der Premierminister und Außenminister der Palästinensischen Autonomiebehörde mit Sitz in Ramallah, Mohammad Mustafa, nimmt den Gedanken auf. Die Polizei der Autonomiebehörde könnte wieder aktiviert werden. (Die Autonomiebehörde in Gaza war von der Hamas 2007 gestürzt worden). Der Palästina-Premier an die Adresse Israels: „Wenn ihr bereit seid, werdet ihr uns als willigen Partner finden“.
Jordaniens Außenminister Ayman Safadi bietet ebenso wie Ägypten Training für palästinensische Verwaltungs- und Sicherheitskräfte an. Nur eines möchte der Minister aus dem Nachbarland Israels nicht hören: Ein Transfer von Einwohnern, „Palästina ist für Palästinenser, Jordanien für Jordanier“, ist seine rote Linie.
Der Minister zieht ein bitteres Resümee: „So wie bisher kann es einfach nicht weitergehen. Diese Region ist als Geisel von der Ideologie eines israelischen Regierungschefs und seiner extremistischsten Minister genommen worden. Selbst das israelische Volk ist Geisel der Interessen dieses Regierungschefs. Die Israelis sollten sich fragen, welche Zukunft sie wollen“, so Jordaniens Außenminister.
Es bedarf nicht erst der heftigen Demonstrationen, um das Bild einer tief gespaltenen israelischen Gesellschaft zu vermitteln. Netanyahu wird vorgeworfen, das Recht der Selbstverteidigung des Landes schon längst überschritten zu haben, den Krieg aus persönlichen Interessen in die Länge gezogen zu haben und in die Hybris (Hochmut, Überheblichkeit) israelischer Übermacht verfallen zu sein.
Was also hat Israel im Gaza-Streifen vor? Das Problem ist nicht mehr, wie Israel in den Gaza-Streifen hineinkommt, sondern herauskommt, also die Last loswird, die auch ein Sieger zu tragen hat.
Variante 4: „Rückkehr“ der Palästinensischen Autonomiebehörde in den Gazastreifen. Dazu ist Israel wohl nicht bereit. Es hält die Autonomieregierung unter dem 89(!)jährigen Mahmud Abbas für unfähig und korrupt. Sie leistet Israel zwar keinen Widerstand, will sich aber auch nicht in die Rolle des Hilfssheriffs einspannen lassen.
Variante 5: Militärregierung. Große Sorge bereitet Experten, dass die rechtsreligiöse Regierung im Gazastreifen zu einer Militärverwaltung greift, greifen muss, wie schon bis 2005. Dies würde starke Auswirkungen auf die gespaltene israelische Gesellschaft haben.
Rechtsextreme Koalitionspartner Netanyahus fordern seit längerem eine Wiederbesetzung und Wiederbesiedlung des Gazastreifens, aus dem Israel sich vor 20 Jahren zurückgezogen hat. Und Trump als wichtigster internationaler Verbündeter Netanyahus sagte: Israel hätte das „unglaublich wichtige Stück Grundbesitz“ – als welches er das Kriegsgebiet bezeichnet – nicht aufgeben sollen.
Jüdische Siedler wieder in den Gaza-Streifen?
Israelische Kritiker warnen vor den Folgen einer Wiederbesetzung. Diese würde enorme wirtschaftlichen Kosten verursachen, „und man müsste über zwei Millionen Menschen herrschen, in einem völlig zerstörten Gebiet“. Israel wäre dann für alle Grundbedürfnisse der Bevölkerung zuständig. Man spricht von Kosten in Milliardenhöhe.
Für eine Wiederbesetzung wären auch deutlich mehr Soldaten notwendig. Aber unter israelischen Reservisten sinkt die Bereitschaft, „in einem Krieg zu kämpfen, dessen Ziel nicht mehr klar ist“. Eine Wiederbesiedlung des Gazastreifens, geschützt und verteidigt vom israelischen Militär, würde die Gesellschaft in Israel in ihren Grundfesten erschüttern.
Erstveröffentlichung Kronen Zeitung
Autor: Kurt Seinitz