Ich bin seit über 10 Jahren mit „Ärzte ohne Grenzen“ im Einsatz. Als Logistik-Koordinator baue ich die Infrastruktur rund um unsere Einsätze auf. Zu meinen Aufgabengebieten zählen, unter anderem, essenzielle Lieferketten zu etablieren und zu optimieren, das Personal zu organisieren, Transportmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen und Sicherheitsmaßnahmen umzusetzen.
Menschen muss bewusst sein, dass wir in Krisengebieten operieren und dort „Mechanismen“ Anwendung finden, die für den durchschnittlichen Westeuropäer alles andere als gewohnt sein dürften.
Ein Beispiel, bei dem es sich um keinen Einzelfall handelt:
„Bei einer groß angelegten Impfkampagne im Tschad befand ich mich vorab auf Erkundungstour. Wir sind die Gegend abgefahren und haben Vorbereitungen getroffen. Neben logistischen Angelegenheiten war mir allerdings auch bewusst, dass wir ein gutes Team brauchen werden. Vermittlungsfirmen, oder generelle arbeitskräfterelevante Infrastruktur wären in funktionierenden Staaten hierfür der normale Ansprechpartner. Doch die Realität ist eine andere – ich sehe einen sympathisch wirkenden jungen Mann im Hotel und frage Ihn, was er in den nächsten zwei Wochen vorhat. Er sieht mich verdutzt an, ich komme gleich zur Sache und biete ihm einen Job an.“
Wenn eine Krise ausbricht, auf die wir reagieren müssen, ist das die harte Realität. Hier braucht es von Anfang an eine schnelle Reaktionszeit und Handlungsbereitschaft.
Krisen erkennen und handeln
Was meine Arbeit herausfordernd macht, ist die Schnelligkeit, mit der eine Krise auf die nächste folgt. Wir haben es im Einsatz mit verschiedensten Notfällen zu tun: Das können Naturkatastrophen, Epidemien, Kriege oder Hungersnöte sein.
Notfälle gelten bei uns als eine akute Situation, die plötzlich eingetreten ist oder kurz bevorsteht. Die Gesundheit und das Überleben vieler Menschen sind bedroht. Ein hoher medizinischer und humanitärer Hilfsbedarf ist zu erwarten.
Was unseren Einsatz erschwert sind Krisen in Krisensituationen. Das reicht von fehlenden Medikamenten wegen Lieferengpässen über Projektverzögerungen durch Personalmangel bis hin zu erschwerten Geldtransfers in instabilen Finanzsystemen. Handlungsprozesse müssen beschleunigt werden und sobald man solche „Krisen“ erkannt hat, muss alsbald reagiert werden. Wir haben dafür ein Ampelsystem, in dem verschiedene Faktoren gemessen werden. Wenn ein Faktor von grün auf Rot springt, handeln wir sofort.
Prioritätensetzung als Balanceakt
Oberste Priorität bei Krisen ist, zuletzt für mich, zu analysieren, welche Ressourcen benötigt werden, um reagieren zu können. Es ist ein Balanceakt zwischen verschiedenen „Tasks“. Ich stelle ein Team zusammen, schaue darauf, dass alle neuen Lieferungen durch den Zoll kommen, verhandle mit lokalen Behörden und kümmere mich um den reibungslosen Ablauf. Hier muss man, gezwungenermaßen, Prioritäten setzen und gute Entscheidungen treffen.
Oftmals denkt man am Anfang eines Einsatzes an die schier unlösbaren Aufgaben und praktisch täglich zweifelt man an der Erfüllbarkeit der Mission. Doch Aufgeben ist niemals eine Option.
Ein weiteres Beispiel hierfür war die Mission im Sudan 2021:
„Dort zählte es zu unseren Aufgaben Geflüchtete aus Äthiopien zu versorgen. Jeden Tag kamen mehr Menschen – letztendlich waren es mehr als 60.000 Personen. Wir haben uns erstmal um die medizinische Versorgung der Menschen gekümmert. Doch es war unheimlich schwierig an das nötige Material zu kommen. Die Visa unserer internationalen Mitarbeiter:innen wurden nicht verlängert. Gleichzeitig ist ein LKW mit Hilfsgütern im Zoll festgesteckt. Das Geld wurde knapp, da der Wechselkurs zu diesem Zeitpunkt enorm in die Höhe geschossen war.
Mein Team und ich haben Tag und Nacht gearbeitet – sieben Tage die Woche. Die physische und psychische Belastungsgrenze wurde mehrmals überschritten, doch letztendlich haben wir es geschafft! Es ist die langjährige Erfahrung, die uns bei solchen Szenarien hilft. Zollprobleme waren zu erwarten und Lieferengpässe konnten durch unseren Notvorrat an Hilfsgütern überbrückt werden. Alle im Team waren darauf vorbereitet und wussten, was zu tun ist.“
Für alle Einsätze haben wir Notfallpläne, um auf alle möglichen Krisenszenarien bestmöglich vorbereitet zu sein. Wir machen Risikoeinschätzungen für alle Einsatzländer. Mögliche Szenarien werden durchgedacht und durchgespielt und genau darin liegt unsere Stärke!
Manche Szenarien sind leichter vorauszusagen, auf manche wiederum bereiten wir uns vor und sie treffen nie ein. Das sind Faktoren, die wir in Kauf nehmen müssen. Im Sudan hat unser schnelles Handeln jedoch Leben gerettet.
Wir machen weiter und kämpfen um jedes Leben
Auf ein Happy End kann ich sie allerdings nicht einstimmen. Auch wenn wir als Logistiker:innen z.B. einen Lieferengpass bei Medikamenten beheben können, ist für unsere Patient:innen nicht alles gleich wieder in Ordnung. Es sind die kleinen Erfolge, über die wir uns freuen und die gefeiert werden.
Wir können die Welt nicht retten, aber wir kämpfen um jedes Leben – deswegen mache ich weiter!
Hier können Unternehmer:innen „Ärzte ohne Grenzen“ durch eine Spende helfen.
Autor: Georg Geyer