Die Psychische Belastung während der Corona-Pandemie hat die Medikamenten-Einnahme in die Höhe getrieben. Das ist das Ergebnis einer von der Stiftung Anton Proksch-Institut Wien in Auftrag gegebenen Repräsentativerhebung „Doping im Alltag“, durchgeführt vom Institut für Sozialästhetik und psychische Gesundheit der Sigmund Freud Privatuniversität Wien.
Medikamentensucht unterschätzt
Geschätzte 150.000 Österreicher:innen sind arzneimittelabhängig. Aufgrund der vermutlich sehr hohen Dunkelziffer liegt die tatsächliche Zahl aber wesentlich höher, Schätzungen gehen von bis zu 300.000 Personen aus. „Eine genaue Angabe ist deshalb schwer möglich, da die Medikamentenabhängigkeit, wie keine andere Suchterkrankung, im Verborgenen stattfindet und die Betroffenen sehr lange sozial unauffällig bleiben“, so Wolfgang Preinsperger, Ärztlicher Direktor am Anton Proksch Institut, einer der führenden Suchtkliniken Europas.
Wenig Datenmaterial
Während die wissenschaftliche Literatur zu Alkohol- oder Drogenabhängigkeit sehr umfangreich ist, lagen zur Medikamentenabhängigkeit bisher kaum Forschungsergebnisse vor – eine Datenlücke, zu deren Schließung die vorliegende Studie beitragen soll. Im ersten Teil der Studie erfolgte die Befragung der Stichprobe von 1.000 Personen telefonisch durch Gallup Österreich. In einer Zusatzerhebung im Oktober 2021 wurden dann per Onlinebefragung speziell die pandemiebedingten Konsum- und Alltagsdopingtrends beleuchtet.
Alltagsdoping umfasst den obligatorischen Morgenkaffee, die Zigarette vor der Arbeit, den Espresso in der Nachmittagspause oder auch das Gläschen Wein abends zum Entspannen auf der Couch. Doch auch Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel werden gezielt zur Beeinflussung der Psyche und zur Leistungssteigerung bei Gesunden eingenommen.
Psychische Belastung befeuert Medikamentengebrauch deutlich
Die Belastungen der Bevölkerung durch die COVID-19-Pandemie erwies sich im Oktober 2021 als nach wie vor erheblich. Beinahe ein Drittel der Befragten (26%) fühlte sich psychisch belastet. 19% gaben an, körperlich belastet zu sein. Die wirtschaftliche/finanzielle Belastung (22%) befand sich ebenfalls auf hohem Niveau. Generell gaben Frauen zu allen drei Messzeitpunkten eine höhere psychische Belastung an als Männer.
Wolfgang Preinsperger: „Betrachtet man jene Personengruppe, die angegeben hat, sich durch die COVID-19-Pandemie psychisch belastet zu fühlen, so zeigt sich eine signifikant stärkere Zunahme des Schmerzmittelgebrauchs. Psychisch Belastete nehmen etwa doppelt so häufig Schmerzmittel ein, wie jene, die sich selbst nicht als psychisch belastet erleben. Ein ähnliches Ergebnis zeigt sich bei Beruhigungs- bzw. Schlafmitteln. Aufputschmittel werden von psychisch Belasteten sogar etwa drei bis vier Mal häufiger eingenommen als von Unbelasteten.“
Beruhigungsmittel
16% der Befragten gaben an, während der Pandemie mindestens einmal Benzodiazepine, also Medikamente, die als Schlaf- oder Beruhigungsmittel eingesetzt werden, eingenommen zu haben. Hier ist ein deutliches Plus des Konsums zu verzeichnen: Bei 48% von Personen, die Beruhigungsmittel einnehmen, kam es zu einer Zunahme, nur bei sieben Prozent dagegen zu einer Abnahme. Am häufigsten ist die Einnahme unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis 30 Jahre.
Auffällig: Personen mit häufig wechselnden Arbeitszeiten geben fast doppelt so häufig an, Benzodiazepine einzunehmen, als jene mit regelmäßigen (65% gegenüber 38%). Es ist davon auszugehen, dass in diesen Fällen Schlafstörungen mit Benzodiazepinen „behandelt“ werden. Der kurzfristigen Linderung der Schlafprobleme stehen hier jedoch langfristig negative Auswirkungen wie Schlafstörungen und Abhängigkeitsentwicklung gegenüber.
Schmerzmittel
Knapp die Hälfte (45%) der österreichischen Allgemeinbevölkerung ab dem 16. Lebensjahr gab an, mindestens einmal seit Pandemiebeginn Schmerzmittel eingenommen zu haben. Während der Pandemie scheint sich das Konsumverhalten zwar nicht verändert zu haben, allerdings zeigt sich, dass jüngere Personen deutlich häufiger eine Schmerzmitteleinnahme angeben als ältere.
Knapp ein Drittel der Schmerzmittelkonsument:innen nimmt diese mehrmals die Woche ein, Migrant:innen der ersten Generation allerdings etwa doppelt so häufig, wie Personen ohne Migrationshintergrund bzw. in Österreich geborene Migrant:innen der zweiten Generation. 11% der Österreicher:innen nehmen mehr Schmerzmittel ein, als ärztlich verordnet. Bei Migrant:innen der ersten Generation steigt dieser Wert auf 33%.
Aufputschmittel
Aufputschende Substanzen werden seit Beginn der Pandemie von 4% der Befragten eingenommen. Bei 38% der Aufputschmittel einnehmenden Personen kam es zu einer Zunahme, bei 24% zu einer Abnahme des Konsums. Aufputschende Substanzen zu sich zu nehmen, kommt bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis 30 Jahre nahezu doppelt so häufig vor wie bei älteren Personen (9%).
Unterstützung bei Alltags-Bewältigung
In einem rasanten und sehr leistungsbezogenem Alltag greifen zahlreiche Menschen auf anregende Substanzen zurück, um bei der Bewältigung diverser Aufgaben ihr volles Potential ausschöpfen zu können oder um sich in einen gewünschten Gefühlszustand zu versetzen. Besonders in Belastungssituationen soll durch Alltagsdoping ein gewünschter Zustand erreicht werden.
Die größten Belastungen werden laut Studie im beruflichen Kontext angegeben (ca. 70% im Beruf gegenüber 40% in Familie und Partnerschaft bzw. 30% in der Freizeit). Trotzdem überwiegt das Einnahmemotiv Enhancement im Freizeitbereich. Berufliche Belastungen scheinen demnach im Freizeitbereich und Familienleben weiter fortzubestehen. Um dort subjektive Leistungsfähigkeit bzw. Wohlbefinden zu erreichen oder aufrecht zu erhalten, werden zahlreiche Substanzen eingesetzt.
Koffein und Alkohol besonders verbreitet
Nahezu jede/r Österreicher:in konsumiert koffeinhaltige Getränke und Lebensmittel. 2019 haben drei Viertel der Österreicher:innen über dem 18. Lebensjahr zumindest einmal Alkohol zu sich genommen. Knapp die Hälfte der Befragten nimmt Nahrungsergänzungsmittel ein. 41% der Befragten gaben an, im letzten Jahr Schmerzmittel zu sich genommen zu haben. Ein Viertel der Österreicher:innen raucht zumindest gelegentlich, knapp zehn Prozent nahmen Beruhigungsmittel, 1% Aufputschmittel. Frauen setzen dabei – bis auf Koffein – alle Substanzen häufiger zur Steigerung von Leistung und Wohlbefinden ein, während Männer die genannten Substanzen stärker als Medikament gegen Belastungen benutzen.
Über die Stiftung Anton Proksch-Institut Wien
1956 als Stiftung „Genesungsheim Kalksburg“ gegründet, blickt die heutige Stiftung Anton Proksch-Institut Wien auf jahrzehntelange Erfahrung im Bereich der Forschung, Lehre, Früherkennung sowie ambulanten und stationären Behandlung (inklusive Rehabilitations- und (Re-)Integrationsansätze) von Suchterkrankungen zurück. Sie hält außerdem 40% der API Betriebs gemeinnützige GmbH.