Der Wiederaufbau der Ukraine sollte nach dem Prinzip „Build Back Better“ sowie auf den grünen und digitalen Umbau der Wirtschaft ausgerichtet werden. Das empfiehlt eine neue Studie des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) und der Bertelsmann Stiftung.
Besonders sechs Bereiche der ukrainischen Volkswirtschaft bergen dafür großes Potenzial und könnten für Investoren interessant sein: erneuerbare Energien, seltene Rohstoffe, Metallverarbeitung, Maschinenbau, Lebensmittelindustrie und IT.
Der Ausbau dieser Bereiche sollte es der Ukraine ermöglichen, einen ökonomischen Entwicklungssprung zu vollziehen und technologisch fortgeschrittene Sektoren mit höherer Wertschöpfung aufzubauen. Zudem könnte er die Integration des Landes in den EU-Binnenmarkt schon vor dem Beitritt maßgeblich vorantreiben.
„Voraussetzung dafür sind allerdings institutionelle Reformen in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung, die mit Industriepolitik sowie einer Strategie zur Anziehung ausländischer Direktinvestitionen kombiniert werden müssen. Darüber hinaus sollte auch das Bildungssystem verbessert werden,“ sagt Olga Pindyuk, Ukraine-Expertin des wiiw und Co-Autorin der Studie.
Handlungsempfehlungen für die EU
„Angesichts der Tatsache, dass Brüssel wegen Abstimmungen mit dem EU-Beitrittsprozess eine Führungsrolle innehat, sollte es diese auch im Wiederaufbau wahrnehmen. Wenn durch die Ukraine und die EU von Beginn an konsequent gesteuert, müssen die Kosten für Wiederaufbau und wirtschaftliche Modernisierung nicht doppelt anfallen“, betont Miriam Kosmehl, Senior Expert Eastern Europe and EU Neighbourhood der Bertelsmann Stiftung.
Maßnahmen:
Die EU sollte der Ukraine dabei helfen, ihre Schwäche beim Anziehen ausländischer Direktinvestitionen zu überwinden. Der großflächige Angriffskrieg Russlands hat das zwar noch schwieriger gemacht. Dennoch bietet die Fokussierung auf die Stärken der Ukraine Chancen, weil sie den eigenen Transformationszielen der EU sowie ihrer sich entwickelnden Industriepolitik und dem Green Deal entsprechen. Ein nachhaltiges Modell zur Anziehung von ausländischen Direktinvestitionen sollte nicht nur auf niedrige Löhne und niedrige Steuern setzen.
„Dafür muss die EU die Verbesserung der Arbeitsproduktivität durch die vollständige Integration der Ukraine in die europäischen Bildungs-, Forschungs-, Entwicklungs- und Industriepolitikprogramme sowie bessere Institutionen in der Ukraine forcieren“, erläutert Olga Pindyuk.
Ebenso sollte die EU den Zugang der Ukraine zum Binnenmarkt und die Integration in EU-Wertschöpfungsketten weiter verbessern, um damit folgende Ziele zu erreichen: Eine größere regulatorische Angleichung an EU-Standards, etwa durch die direkte und frühe Einbindung in EU-Initiativen beim Außenhandel, beim Green Deal, beim digitalen Markt und im Bereich Infrastruktur und Konnektivität. Vorübergehend gewährte Handelserleichterungen sollten dauerhaft gemacht werden, anstatt protektionistischen Reflexen nachzugeben, wie derzeit etwa in der Landwirtschaft oder in der Industrie.
„Über die Nutzung der komparativen Vorteile der Ukraine ließe sich auch die wirtschaftliche Unabhängigkeit der EU – zum Beispiel bei kritischen Rohstoffen oder erneuerbaren Energien – stärken“, meint Olga Pindyuk.
„Last but not least“ mahnt die Studie eine enge Zusammenarbeit der EU mit der Ukraine an, um ihre Industriepolitik zu entwickeln und den Wiederaufbau an den vorhandenen ökonomischen Stärken und vielversprechenden Nischen auszurichten – idealerweise bereits während des Krieges.
Direktinvestitionen als Schlüssel
Das Anziehen ausländischer Direktinvestitionen wird dabei entscheidend für den Erfolg der Ukraine sein. Privaten Geldern kommt eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau zu, da sie flexibler und vielfältiger einsetzbar sind als Mittel von öffentlichen und staatlichen Geldgebern, auch wenn diese eine Initialzündung sein können. Zudem bringen ausländische Direktinvestitionen im Regelfall einen Technologietransfer und eine stärkere Einbindung in globale Wertschöpfungsketten mit sich. Somit könnten sie die Integration der Ukraine in den EU-Binnenmarkt und die Weltwirtschaft enorm voranbringen.
Die Ukraine hat seit ihrer Unabhängigkeit Schwierigkeiten, bedeutende Mengen an ausländischen Direktinvestitionen (Foreign Direct Investment – FDI) anzuziehen. Mit einem Pro-Kopf-Bestand von nur rund 1.100 Euro gehört die Ukraine zu den Ländern mit den geringsten FDI-Beständen in Europa.
„Militärische Sicherheitsgarantien vom Westen sowie institutionelle Reformen in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit und Eigentumsrechte sind die notwendigen Voraussetzungen für den Zufluss ausländischer Direktinvestitionen in großem Umfang“, betont Olga Pindyuk.
In den vergangenen Jahren hat die Ukraine bereits mehrere wichtige Gesetze zur Förderung von FDI verabschiedet. Im Mai hat auch die Notenbank damit begonnen, Devisenbeschränkungen aufzuweichen und so privaten Investoren eine Tür zu öffnen. Sie dürfen jetzt, innerhalb bestimmter Grenzen, Dividenden ausführen sowie Kredite, Pachten und Mieten im Ausland bezahlen, was für sie eine große Erleichterung darstellt.
Zukunftsbranche Informationstechnologie
Enormes Potenzial für ausländische Direktinvestitionen bietet der Bereich Informationstechnologie. Der IT-Sektor hat sich im Krieg als besonders widerstandsfähig erwiesen und zählt zu den aussichtsreichsten Zukunftsbranchen weltweit. Die Ukraine ist hier gut aufgestellt.
„In den letzten zehn Jahren hat sich der IT-Bereich zu einem der dynamischsten Sektoren in der Ukraine entwickelt, mit solidem exportorientiertem Wachstum und einem Anteil von etwa vier Prozent an der gesamten Wertschöpfung im Jahr 2021“, so Olga Pindyuk.
„Vor der russischen Invasion beschäftigte der Sektor fast 300.000 Menschen. Das Bildungssystem bringt zudem jährlich deutlich mehr IT-Absolventen als in den Nachbarändern in Ostmitteleuropa hervor, nämlich 68 Absolventen pro 100.000 Einwohner in der Ukraine im Vergleich zu 23 in Polen, 46 in Ungarn und 54 in Estland. Wenn es der Ukraine gelingt, ihr Potenzial voll auszuschöpfen, könnte sie zu einer IT-Großmacht aufsteigen und diesen Sektor zu einer der tragenden Säulen ihrer Wirtschaft ausbauen“, ergänzt Olga Pindyuk abschließend.
Mehr Informationen zur vollständigen Studie finden Sie hier