Die Mitte der Gesellschaft galt über Jahrzehnte als das tragende Fundament westlicher Stabilität – ökonomisch, politisch und kulturell. Sie war das Maß der Vernunft, der Ort, an dem Fortschritt und Verlässlichkeit in Balance standen.
Heute jedoch bröckelt dieses Fundament: Kaufkraft und Vertrauen schwinden, während Unsicherheit und Polarisierung wachsen. Und mit der Mitte gerät auch das Gleichgewicht ganzer Märkte ins Wanken – inklusive jenes, auf dem Wirtschaft und Medien agieren.
Erosion des Fortschrittsversprechens
Noch vor einer Generation schien die Mittelschicht ein Versprechen zu sein: Wer sich anstrengte, konnte sich etwas aufbauen – ein Zuhause, Sicherheit, Zukunft. Dieses Narrativ trug das Selbstverständnis ganzer Volkswirtschaften.
Doch die Realität hat sich verschoben. Laut OECD fühlen sich inzwischen rund 60 Prozent der europäischen Mittelschicht finanziell unter Druck. Die Reallöhne stagnieren, während Lebenshaltungskosten steigen; gleichzeitig wächst die Angst vor sozialem Abstieg. Die Bertelsmann-Stiftung spricht in einer Sozialstudie von einer „verunsicherten Mitte“, die „sich zunehmend von politischen und wirtschaftlichen Institutionen entfremdet“.
Der deutsche Philosoph Richard David Precht (geb. 1964) beschreibt diesen Wandel in seinen Interviews und Schriften sinngemäß als „psychologische Erosion des Fortschrittsversprechens“. Wenn eine Gesellschaft den Glauben daran verliert, dass morgen besser wird als heute, so Precht, „verliert sie nicht nur ihre ökonomische Dynamik, sondern auch ihre moralische Energie“.
Genau das erleben wir derzeit: eine Mitte, die sich überfordert fühlt – materiell und mental.

Diese Entwicklung ist mehr als ein Verteilungsproblem. Sie ist ein kulturelles Symptom: Wenn die Mitte ihre ökonomische Basis verliert, verliert sie auch ihren Glauben an Fairness – daran, dass Leistung sich lohnt, Institutionen verlässlich sind und Zukunft gestaltbar bleibt. Das Ergebnis ist ein Klima, das von Misstrauen und Müdigkeit geprägt ist. Die Folgen sind politisch sichtbar, aber ökonomisch noch unterschätzt. Denn eine Gesellschaft, die an ihr eigenes Versprechen nicht mehr glaubt, konsumiert anders, kommuniziert anders – und investiert vor allem weniger.
Vertrauen als Währung
Für Unternehmen bedeutet das eine tektonische Verschiebung. Klassische Konsummuster lösen sich auf: Die oberen Segmente suchen Exklusivität, die unteren Preisdramatik. Dazwischen klafft ein Raum, in dem Marken und Märkte um Orientierung ringen. Was gestern noch als „Mainstream“ galt, existiert so nicht mehr. Wachstum entsteht an den Extremen – Luxus und Discount –, während die Mitte ausdünnt.
Das gefährdet nicht nur Umsätze, sondern auch Identität: Wer spricht noch zu jenen, die nicht mehr wissen, wo sie stehen?
Das WIFO weist in seiner aktuellen Analyse zur Kaufkraftentwicklung darauf hin, dass „die reale mittlere Einkommensgruppe in Österreich seit 2015 schrumpft – bei gleichzeitig wachsender Einkommenspolarisierung“. Diese Polarisierung wirkt unmittelbar auf Konsum und Markenloyalität. Wenn die Mitte spart, tut sie das nicht nur aus Notwendigkeit, sondern aus Misstrauen: gegenüber Märkten, Preisen, Zukunft. Konsum wird selektiver, politischer, moralisch aufgeladen.
Auch Medien spüren diese Entwicklung unmittelbar. Denn die Mitte war ihr Publikum – neugierig, kritisch, meinungsbildend, zahlungskräftig. Doch wenn Vertrauen und Kaufkraft zugleich erodieren, verliert Journalismus seine Resonanzfläche.
Polarisierte Öffentlichkeiten bevorzugen Extreme: laut, einfach, emotional.
Die differenzierte Mitte, der Raum für Argument und Analyse, verliert an Lautstärke – obwohl er für eine funktionierende Demokratie unverzichtbar bleibt. Zugleich geraten die vermeintlich neuen, zukunftsträchtigen Geschäftsmodelle unter Druck: Qualitätsjournalismus braucht Zahlungsbereitschaft, doch diese wächst selten in Zeiten der Skepsis.
Der spanische Philosoph Daniel Innerarity (geb. 1959) nennt das sinngemäß „die Paradoxie moderner Gesellschaften“: Je komplexer unsere Welt werde, desto stärker wachse der Wunsch nach einfachen Wahrheiten – und desto schwerer falle es Institutionen, Orientierung zu geben. Genau hier liegt die gemeinsame Herausforderung für Wirtschaft und Medien. Beide müssen in einer Zeit, die schnelle Erregung belohnt und langfristiges Vertrauen bestraft, Wege finden, wieder Relevanz zu stiften.
Führung – Kommunikation – Verantwortung
Wenn die Mitte schwächer wird, müssen Führung, Kommunikation und Verantwortung stärker werden.
Es reicht nicht mehr, Produkte zu verkaufen oder Inhalte zu publizieren – es geht darum, Handlungsräume zu schaffen. Unternehmen beinahe aller Branchen und Medien teilen hier ein Schicksal: Sie sind angewiesen auf eine Gesellschaft, die an sich selbst glaubt. Denn ohne Zuversicht in der Mitte gibt es keine stabile Nachfrage, keine konstruktive Debatte und am Ende auch keine Demokratie, die trägt.
Die Herausforderung der kommenden Jahre wird daher nicht allein darin liegen, Märkte neu zu ordnen oder Geschäftsmodelle anzupassen. Sie wird darin liegen, Vertrauen zurückzugewinnen – rational, glaubwürdig, geduldig.
Denn wer die Mitte verliert, verliert nicht nur Kund:innen und Leser:innen. Er verliert das Fundament, auf dem Zukunft überhaupt erst möglich wird.
Autor: Markus Mair
