Keine Frage, Europa steckt in der Krise. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, dass die Europäische Union mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Über sechs Jahrzehnte hindurch habe die EU, so das Norwegische Nobelpreiskomitee im Jahr 2012 in seiner Begründung, „zur Förderung von Frieden und Versöhnung beigetragen“ und „eine neue Ära der europäischen Geschichte eingeleitet“.
Von der damaligen Euphorie ist nichts mehr zu spüren. In den letzten Jahren haben sich viele neue Gräben aufgetan: In wenigen Monaten steht mit dem Brexit der Austritt eines der wirtschaftlich wichtigsten Mitglieder bevor, der die Wirtschaftstreibenden hüben wie drüben des Kanals in Atem hält. Es gibt neue Trennlinien zwischen Ost und West und das Pochen auf Themen wie Rechtsstaatlichkeit, Unabhängigkeit der Justiz und Medienfreiheit ist plötzlich auch in manchen Mitgliedstaaten der Europäischen Union von Belang.
An der wirtschaftlichen Front sorgen die Drohgebärden eines Donald Trump nicht nur für Wellen, sie haben sogar das Potenzial, die Dynamik der Weltwirtschaft massiv zu beeinträchtigen. Und als ob das nicht genug wäre, fordert nun die neue italienische Regierung Brüssel zu einem Kräftemessen heraus, das in einer Schicksalsgemeinschaft, wie sie die Wirtschafts- und Währungsunion nun einmal ist, ganz schnell auf Kosten der Euro-Partnerländer gehen kann.
Gerade in dieser Zeit des europäischen Umbruchs muss danach getrachtet werden, das Gemeinsame vor das Trennende zu stellen. Nur wenn Europa geeint auftritt, hat es eine Chance, auf der Weltbühne und bei der Lösung der globalen wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen nicht nur ernst genommen zu werden, sondern sogar eine Schlüsselrolle zu spielen. Wir müssen jetzt entschieden handeln, damit Europa wieder stark wird und Österreich in Europa seine Zukunft finden kann.
Gefragt ist auch ein wirtschaftlich und politisch eigenständiges Agieren der Europäischen Union. Europa ist die stärkste Handelsmacht der Welt. Warum sollten wir uns von der zweitstärksten Handelsmacht vorführen lassen?
Schlüsseljahr 2019
Heuer wird ein Schlüsseljahr für die Weiterentwicklung der Europäischen Union: Im Mai steht die Neuwahl des Europäischen Parlaments bevor. Damit werden auch die Weichen für die nächste Europäische Kommission gestellt, die über kurz oder lang in die Rolle einer europäischen Regierung hineinwachsen sollte.
Wenn man den Umfragen glauben darf, wird die Auseinandersetzung zwischen den prinzipiell proeuropäischen Kräften und jenen, die das europäische Projekt in seinen Grundfesten aus den Angeln heben wollen, so scharf geführt werden wie nie zuvor. Europa braucht daher eine positive, zukunftsorientierte Agenda. Es muss gemeinsame Lösungsansätze und Antworten auf Herausforderungen wie die Digitalisierung, Migration und den Klimawandel finden, um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger wiederzugewinnen und zu einem Erfolgsprojekt zu werden, das von den Menschen akzeptiert und getragen wird.
Bewusste Förderung der KMU
Neben dem politischen Hauptthema „Zukunft der EU“ geht es vor allem darum, Reformen in wichtigen Wirtschaftsbereichen voranzutreiben – etwa zum Thema digitaler Binnenmarkt, zu den Themen Mobilität und saubere Energie oder zur Vertiefung der Eurozone. Ich halte zudem eine noch engere Abstimmung unter den EU-Mitgliedsstaaten für notwendig: insbesondere eine koordinierte, kontrollierte und sanktionierte Budgetpolitik, basierend auf einer strategisch orientierten Wirtschaftspolitik; eine klare Ausrichtung auf die Schwerpunkte Innovation und Qualifikation; eine deutliche Reduktion von Bürokratie und eine Wachstumspolitik durch bewusste Förderung der kleinen und mittleren Unternehmen Europas.
Europa muss zudem die wirtschafts- und handelspolitische Kooperation mit allen wichtigen Partnerländern stärken und ausbauen sowie gemeinsame moderne Regeln für den internationalen Handel schaffen und umsetzen. Vergessen wir nicht: Der freie Welthandel bringt Wohlstand, Beschäftigung, Ausbildung und Lebenschancen, der Nationalismus und die wirtschaftliche Abschottung hingegen bedeuten Rückschritt.
Es geht aber nicht nur um eine gemeinsame Wirtschafts- und Währungspolitik, eine engere Koordinierung oder Handelsabkommen mit allen wichtigen Handelspartnern weltweit. Es geht ganz generell und prinzipiell um ein Europa, das nicht Schwäche, sondern Stärke signalisiert, das strategisch handlungsfähig ist. Klar ist zudem: Je besser Europa funktioniert, desto besser für uns alle. Das gilt auch und gerade für ein kleines, exportorientiertes Land wie Österreich, das mit Europa den wichtigsten Exportmarkt gleich vor der Haustür hat.
Die europäische Einigung ist nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht ein Glücksfall, sondern auch ein Friedensprojekt, um das wir in der ganzen Welt beneidet werden. Diese Errungenschaften müssen wir bewahren, weiterentwickeln und an künftige Generationen weitergeben. Ich bin überzeugt, dass Europa alle Chancen hat, auch aus dieser von Herausforderungen und Krisen geprägten Zeit gestärkt hervorzugehen. Ein Scheitern dieses weltweit einzigartigen Friedensprojektes darf ganz einfach keine Option sein. Auf die Frage „Europa?“ kann es daher nur eine Antwort geben: Europa!