Einstimmigkeit ist keine Demokratie

Mehr Wirtschaftsbildung, mehr Europa, mehr soziales Engagement: Andreas Treichl bohrt in unterschiedlichen Rollen an dicken Brettern. Im Interview spricht der Aufsichtsratsvorsitzende der Erste-Stiftung und Präsident des europäischen Forums Alpbach über teure Wissenslücken, ideologische Grabenkämpfe und dringend nötige Reformen.
© ERSTE Stiftung/Jakob Polacsek
Einstimmigkeit ist keine Demokratie Andreas Treichl Erste Stiftung Forum Alpbach
Andreas Treichl, Vorsitzender des Aufsichtsrats der ERSTE Stiftung

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Sie setzen sich als einer der Stifter mit der Stiftung für Wirtschaftsbildung dafür ein, dass Finanzbildung stärker im Lehrplan und in den Schulen zu verankert wird. Wie steht es denn um das Finanzwissen von Jugend und Erwachsenen in Österreich?

Es gibt generell keinen großen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen. Der Bildungsgrad hängt eher von Gesellschaftsschichten, vom Ausbildungslevel und dem Geschlecht ab. Man kann sagen, dass das Finanzwesen in Österreich im europäischen Vergleich eher durchschnittlich ist. Es gibt auch eine starke Korrelation zwischen dem Ausbildungssystems in den Schulen und der Kapitalmarktnähe einer Gesellschaft. In Ländern, die Finanz- und Wirtschaftsbildung in der Primärstufe haben, ist das Wissen höher. In Österreich, wo es erst in Sekundärstufe stattfindet, und auch da nur im Rahmen von Geographie und Wirtschaftskunde, ist es recht niedrig.

Wo verorten Sie die größten Wissenslücken?

Besonders wichtig wäre das persönliche Budgetieren. Jeder müsste von Jugend an die Mittel an die Hand bekommen, um eine persönliche Eingaben- und Ausgabenrechnung machen zu können, die es ermöglicht, in rudimentärer Form eine Finanzplanung für kommende Lebensphasen zu erstellen. Das ist der wesentlichste Aspekt. Jene Menschen, die in der glücklichen Situation sind, dass sie Geld beiseitelegen können, sollten darüber hinaus die unterschiedlichen Investitionsinstrumente und ihre Merkmale kennen. Dieses Wissen fehlt vielen Menschen. Und natürlich wäre auch noch ein allgemeines Verständnis für das Wirtschaftsgefüge wichtig.

© PantherMedia/Paulpaladin
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„Calvinistische und protestantische Länder haben zum Beispiel einen offeneren Zugang zu Wirtschaft und Kapital als katholische.”

Woran liegt es, dass Geld zwar eine enorme Rolle in unserem Leben spielt, aber im Bildungssystem nur eine untergeordnete Bedeutung erhält?

Ich glaube, dieser Umstand ist tief in den gesellschaftlichen und politischen Systemen verwurzelt und hat auch mit Religion zu tun. Calvinistische und protestantische Länder haben zum Beispiel einen offeneren Zugang zu Wirtschaft und Kapital als katholische.

Politisch werden viele Vorbehalte, Missverständnisse und falsche Interpretationen von Wirtschaft gepflegt. Oft werden Betriebe und Menschen auseinanderdividiert. Dass die Wirtschaft Menschen ausbeuten will, wie in manchen Schulbüchern suggeriert wird, trifft einfach nicht zu. Die Ausbildung sollte so gestaltet sein, dass klar wird, dass jeder Teil der Wirtschaft ist. Egal in welcher Rolle. Wirtschaft ist nichts Böses. Wir alle sind ein Teil des Gefüges. Doch das wird in vielen Ländern ideologisch missinterpretiert.

Früher hat es gereicht monatlich Geld auf ein Sparbuch einzuzahlen, um aus seinem Geld mehr zu machen. Der Vermögensaufbau gestaltet sich heute wesentlich komplexer. Wächst dadurch die Dringlichkeit, Finanzbildung auf die Agenda zu setzen?

Natürlich, darum muss man jetzt sofort bei der Jugend ansetzen. Mit der Blockchain und Kryptowährungen und NTFs kommen darüber hinaus viele neue Optionen hinzu, die zum Teil sehr anspruchsvoll sind. Man darf nicht übersehen, dass Smartphones die Geschwindigkeit und Leichtigkeit Investitionen zu tätigen, dramatisch erhöhen. Für jeden, der einen Zugang dazu hat, ist Finanzbildung wirklich wichtig.

Wer steht bei dem Thema auf der Bremse?

Das System selbst bremst. Ich möchte nicht den Schulen, Lehrern und Gewerkschaften die Schuld geben. Es ist das System insgesamt, das sich schwertut, das Thema zu entideologisieren – doch das wäre wirklich wichtig. Wenn man sich die Schulbücher für Geographie und Wirtschaftskunde ansieht, erkennt man eine starke ideologische Schlagseite. Sie vermitteln den Eindruck, dass man die Kinder vor der bösen Wirtschaft schützen muss. Ich würde deswegen dafür plädieren, ein eigenes Fach Wirtschaftskunde zu etablieren. Egal welchen Lebensweg man wählt – ob Handwerker, Arzt oder Künstler – für jeden ist es wesentlich leichter, wenn man mit gesunder Wirtschaftsbildung ausgestattet ist. Körperliche und geistige Gesundheit sind das wichtigste Gut, doch danach folgt schon die finanzielle Gesundheit. Wirtschaftliche Bildung hätte dabei die Funktion einer Prävention.

Wenn das System weiterhin bremst und das Thema nicht in die Schulen Einzug hält: Kann Wissenserwerb nicht auch über andere Kanäle stattfinden?

Natürlich. Es gibt darum mittlerweile extrem viele Plattformen von National- und Zentralbanken, von Finanzinstitutionen und NGOs, die sich damit befassen. Das Angebot differenziert sich auch für die unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen. Als Erste Stiftung wollen wir dazu beitragen, eine Plattform für all jene zu schaffen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen. Dahinter steht das Ziel, auch benachteiligte Menschen zu erreichen, damit sie auch außerhalb des Schulsystems Zugang zu Bildung erhalten. Aber die Schulen haben nun einmal die breiteste Wirkung. Deshalb unterstützen wir als Erste Stiftung auch gemeinsam mit der WKO, der Innovationsstiftung, der Arbeiterkammer, der Nationalbank, der Megabildungsstiftung, der IV die Stiftung für Wirtschaftsbildung. Deren Ziel ist es unter anderem, das Thema in die Allgemeinbildenden höheren Schulen zu bringen.

Einstimmigkeit ist keine Demokratie Andreas Treichl Erste Stiftung Forum Alpbach
„Banken und Versicherungen werden von sehr vielen staatlichen und staatsnahen Institutionen nicht als geeignete Partner wahrgenommen.”

Viele Geldfragen kulminieren nach wie vor in Banken. Sind sie besonders gefordert, Aufklärungsarbeit zu leisten?

Ja, sie spielen eine Rolle. Aber Banken und Versicherungen werden von sehr vielen staatlichen und staatsnahen Institutionen nicht als geeignete Partner wahrgenommen. Man wirft ihnen vor, dass sie die Auszubildenden dazu veranlassen, ihre Produkte zu kaufen. Man unterstellt ihnen einen Eigennutzen. Diesen Beigeschmack wird man nicht leicht los.

Was würde sich ändern, wenn der Bildungsstandard rund um Finanzthemen besser wäre?

Machen wir eine kleine Rechnung: In Europa liegen acht Billionen Euro auf verzinsten Sparbüchern. Wenn wir von 200 Millionen Haushalten ausgehen, sind das 40.000 Euro pro Haushalt. Um den Liquiditätsbedarf abzudecken, reicht die Hälfte. Wenn die verbleibenden vier Billionen auf die Dauer mit einem Zinssatz von fünf Prozent veranlagt werden, zum Beispiel durch eine Investition in Investmentfonds, dann ergibt das einen Betrag von 200 Milliarden.

Die 200 Millionen Haushalte hätten damit einen Zuwachs von 200 Milliarden pro Jahr. Über 10 oder 15 Jahre wäre das eine gehörige Vermehrung des Vermögens der Haushalte.

Doch so, wie es jetzt ist, wird das Geld weniger. Es verringert sich real um zwei bis drei Prozent pro Jahr. Wenn dieses Geld auch noch dem europäischen Kapitalmarkt zur Verfügung stehen würde, wie fantastisch würde das die Wirtschaftsleistung anfeuern? Und helfen, Arbeitsplätze zu schaffen!

Sie befassen sich nicht nur mit Finanzbildung, sondern sind auch Aufsichtsratsvorsitzender der Erste-Stiftung und Präsident des europäischen Forums Alpbach. Welcher rote Faden zieht sich durch diese Tätigkeiten?

Neben Bildung, über die wir ja schon gesprochen haben, ist es sicherlich das soziale Engagement und das Thema Europa. Die Erste Stiftung ist der größte Eigentümer der Erste Group, die sich der finanziellen Gesundheit stark widmet. Ein Teil davon ist Finanzbildung und Prävention. Das kann man nicht profitabel machen. Deswegen investiert die Erste Stiftung in soziale Aktivitäten. Dazu zählt auch das Thema Social Banking, das wir mit der Zweiten Sparkasse abdecken. Dies ist eine Bank, die Menschen, die sonst nicht als Kunden akzeptiert werden würden, betreut. Die Erste Stiftung befasst sich auch stark mit Europa. Hier schließt sich der Kreis zum europäischen Forum Alpbach. Auch dort spielen die Jugend und der Brückenschlag zwischen nationaler und europäischer Politik eine tragende Rolle. Wir wollen die Jugend Europas mit der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Politik zusammenbringen, um Probleme gemeinsam noch besser zu lösen.

Das erste europäische Forum Alpbach unter ihrer Präsidentschaft ist gerade über die Bühne gegangen. War es „europäischer“ als die letzten Jahre?

Was die Akteure und Sprecherinnen anbelangt, ja. Doch deswegen wird Alpbach nicht ein provinzielles europäisches Event. Wenn man sich mit den Problemen Europas befasst, muss man ja auch transatlantische Themen betrachten. Auch die Zuspitzung zwischen Amerika und China war ein großes Thema. Wie kann Europa darauf reagieren? Kann sich Europa darauf verlassen, dass die Amerikaner Europa militärisch in Zukunft unterstützen? Wie können wir eigenständiger werden? Mit welchen Technologien könnten wir global aufholen?

© PantherMedia/Yann Song Tang
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„Die Konzentration auf das Europäische im Forum heißt also nicht, dass uns nur mehr Europa interessiert.”

Welchen Einfluss wird die Entwicklung Afrikas auf Europas Zukunft haben?

Die Konzentration auf das Europäische im Forum heißt also nicht, dass uns nur mehr Europa interessiert.

Sehen Sie denn die Chance, dass die Länder Europas im Lichte dieser globalen Herausforderungen näher zusammenrücken?

Das müssen sie, vor allem bei sehr ideologisch besetzten Themen. Das Gesundheitswesen, die Breitbandversorgung und das Insolvenzrecht müsste man zum Beispiel einfach zusammenzulegen. Nichts davon ist für das Selbstverständnis eines Nationalstaates nötig, aber trotzdem wird jahrelang diskutiert. Wir wissen 2021 auch ganz genau, dass wir den innereuropäischen Städteflugverkehr rasch durch Schnellzüge ersetzen sollten. Doch wir haben innerhalb Europas drei verschiedene Spurgrößen. Das hätte man schon längst vereinheitlichen sollen. Doch die Geschwindigkeit, mit der Europa die Themen angeht, ist katastrophal schlecht. Fridays for Future hat gezeigt, dass die Jugend, wenn sie die Wissenschaft und Wirtschaft auf ihrer Seite bringt, extrem viel Geschwindigkeit bei der Politik erreichen kann. Wir brauchen für sehr viele Bereiche, ähnliche Bereiche, ähnliche Bewegungen. Wir werden die Jugend Europas wohl nicht für ein einheitliches Bahnnetz auf den Heldenplatz bringen. Aber vielleicht auf den Rathaus-Platz.

Was würden Sie morgen in unserem System ändern, wenn sie könnten?

Als Erstes würde ich das Einstimmigkeitsprinzip in der EU abschaffen. Einstimmigkeit ist keine Demokratie. Und gleich danach würde ich die Bürokratie der EU ausforsten.

Autor: Stephan Strzyzowski

Erstveröffentlichung: die-wirtschaft.at

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