Die Frage, die sich daher aufdrängt, lautet: Gibt es eine Möglichkeit, wie wir dem Zufall mehr Raum in unserer schnelllebigen Business-Welt geben können?
Jakob Müllner, akademischer Leiter des Executive MBA Finance der WU Executive Academy und Professor am Institut für International Business der WU Wien, hat sich das sogenannte „Serendipity Mindset“ aus einer Finanzperspektive genauer angesehen und analysiert, was Führungskräfte und Finance Professionals tun können, um von den enormen Chancen, die der Zufall bietet, systematisch profitieren zu können.
„Denken wir nur an Alexander Flemings Entdeckung des Penicillins, die Erfindung des Klettverschlusses oder sogar den raketenhaften Aufstieg von Plattformen wie Airbnb – allesamt entstanden aus ungeplanten, aber entscheidenden Erkenntnissen“, so Jakob Müllner.
Der amerikanische Forscher Christian Busch, der an der New York University (NYU) und an der London Business School (LBS) lehrt und forscht, hat für dieses Phänomen den Begriff „Serendipity“ in der Managementlehre etabliert, um die innovative Kraft des Zufalls und der Zufälligkeit zu beschreiben.
Was genau ist aber Serendipity?
Bei dem Begriff Serendipity, der sich von der alten Bezeichnung Serendip für das antike Königreich Ceylon, dem heutigen Sri Lanka, ableiten lässt, geht es im Kern darum, unerwartet wertvolle Entdeckungen zu machen.
„Es ist nicht bloßes Glück oder Zufall, sondern die Kombination aus Zufall und menschlichem Handeln – unsere Fähigkeit, unerwartete Gelegenheiten zu erkennen, miteinander in Zusammenhang zu bringen und sie zu nutzen“, erörtert Jakob Müllner.
Ende Oktober 2024 hostete die WU Executive Academy ein Event mit Vertretern von Österreichs einzigem Einhorn, dem Fintech-Unternehmen Bitpanda.

Auch die Geschichte von Bitpanda begann, Überlieferungen zufolge, im Jahr 2014 mit einem zufälligen Treffen der drei Gründer an einer Autobahnraststätte, die zwar ein frühes Interesse an Kryptowährungen teilten, ansonsten aber erstaunlich unterschiedlich waren: Ein Schiffsmechaniker, ein semi-professioneller Pokerspieler und ein von Technik begeisterter Landwirt. Nur zehn Jahre später halten die drei immer noch die Mehrheitsbeteiligung an einem Unternehmen mit einem Wert von 4,1 Milliarden USD. Die Gründer verkörpern genau jenes Serendipity-Mindset, welches Christian Busch beschreibt.
Im Laufe von zehn Jahren haben sie mit dieser Denkweise die Offenheit für das Unbekannte gefördert und Einzelpersonen und Organisationen in die Lage versetzt, zufällige Begegnungen in wirkungsvolle Ergebnisse zu verwandeln. Die Wachstumsgeschichte von Kryptowährungen und somit das Wettbewerbsumfeld von Bitpanda war seit jeher von Disruption durch Spekulation, Innovation, beizeiten auch Betrug geprägt. Um in diesem volatilen, zufälligen Umfeld zu bestehen und zu wachsen, musste sich das Unternehmen immer wieder neu aufstellen (i.e. handeln).
Christian Busch nennt drei wesentliche Bedingungen, damit Serendipity entstehen kann:
- Handlungsfähigkeit: Die Fähigkeit, unerwartete Gelegenheiten zu erkennen und zu nutzen.
- Überraschung: Das Auftreten eines ungeplanten Ereignisses oder einer ungeplanten Entdeckung.
- Nutzen: Die Schaffung von sinnvollen Ergebnissen aus dem Unerwarteten.
Wie Christian Busch es so treffend formuliert: „Bei der Serendipity-Mentalität geht es darum, Brücken zu sehen, wo andere Lücken sehen, und das Unerwartete in positive Ergebnisse zu verwandeln.“
Wie aber funktioniert Serendipity?
Das Serendipity-Mindset ist deshalb so wertvoll, weil sie die Fähigkeit des Einzelnen und die der Organisation verbessert, auf Unsicherheit und Disruption zu reagieren. In einer Welt, die von permanentem Wandel geprägt ist, entspricht dieser Ansatz der Realität, dass nicht alles vorhergesagt oder geplant werden kann.

„Die Forschung zeigt, dass Serendipity vor allem in Umgebungen gedeiht, die Neugier, Flexibilität und vielfältige Interaktionen fördern. Unternehmen, die diese Eigenschaften kultivieren, können verborgene Chancen nutzen und scheinbar zufällige Ereignisse in strategische Vorteile verwandeln. Leider sind Risikoaffinität und Kreativität historisch gesehen keine natürlichen Kernkompetenzen oder Qualifizierungskriterien für CFOs“, unterstreicht Jakob Müllner.
Serendipity in der Praxis
1. Im Business:
Googles Politik, den Mitarbeitern 20 % ihrer Zeit für leidenschaftliche Projekte zur Verfügung zu stellen, führte zur Entwicklung von Google Mail und Google Maps. Diese Innovationen waren nicht Teil der Kernstrategie des Unternehmens, sondern entstanden als zufällige Nebenprodukte der Förderung von Kreativität und Experimentierfreude.
Indra Nooyi, ehemalige CEO von PepsiCo, betonte, wie wichtig es sei, unerwartete Chancen zu ergreifen:
„In einer sich schnell verändernden Welt müssen wir für das Unerwartete offenbleiben. Einige unserer innovativsten Produkte sind aus Ideen entstanden, die wir ursprünglich nicht geplant hatten.“
Deshalb: Serendipity in Organisationen kultivieren
„Um sich den Zufall zunutze zu machen, können Führungskräfte aktiv etwas dafür tun, um ein Umfeld zu schaffen, das die Wahrscheinlichkeit von Serendipity erhöht“, informiert Jakob Müllner.
Hier seine Tipps für die Praxis:
- Fördern Sie die funktionsübergreifende Zusammenarbeit
Serendipity entsteht oft an der Schnittstelle verschiedener Ideen. Schaffen Sie Gelegenheiten für Mitarbeiter aus verschiedenen Abteilungen, zusammenzuarbeiten und Perspektiven auszutauschen. Diese gegenseitige Inspiration führt nicht selten zu neuen Erkenntnissen und Lösungen.
- Fördern Sie eine Kultur der emotionalen Sicherheit
Mitarbeiter müssen sich sicher und unterstützt fühlen, wenn sie unkonventionelle Ideen teilen, ohne Angst vor Verurteilungen zu haben. Unternehmen wie Pixar haben Strategien eingeführt, die sicherstellen, dass jede Meinung oder Idee Gehör findet. Auf diese Weise konnten Kreativität und Innovation in Unternehmen deutlich gesteigert werden.
- Investieren Sie in flexible Strukturen
Starre Arbeitsabläufe können Serendipity erst gar nicht entstehen lassen. Setzen Sie stattdessen auf flexible Rahmenbedingungen, die Experimente und Iterationen ermöglichen. Agile Methoden etwa fördern adaptive Planung und erweitern den Blick für unternehmerische Chancen.

- Unterstützen Sie ihr Team, wachsam und neugierig zu bleiben
Bieten Sie Schulungen und Weiterbildungsformate an, die Fähigkeiten wie aktives Zuhören, Neugierde und Intuition fördern. Diese Eigenschaften ermöglichen es Ihrem Team, schwache Signale – also potenzielle Chancen – zu erkennen, die andere vielleicht übersehen.
- Nutzen Sie (neue) Technologien, um Serendipity zu ermöglichen
Tools wie KI-gesteuerte Empfehlungssysteme können kuratierte und dennoch zufällige Begegnungen schaffen, sei es, um Mitarbeiter innerhalb eines Unternehmens miteinander zu verbinden, oder sie mit unerwarteten Möglichkeiten zusammenzubringen.
2. In der Gesellschaft:
Serendipity wird nicht in allen Kulturen gleichermaßen akzeptiert. In Gesellschaften, die besser mit Unsicherheiten umgehen können, wie z. B. in Schweden, Dänemark und den Niederlanden, ist die Akzeptanz von Mehrdeutigkeit und die Bereitschaft zum Experimentieren größer. Diese Kulturen weisen oft eine hohe Innovationsrate auf, da sie Flexibilität fördern und Scheitern als Teil des Entdeckungsprozesses tolerieren und sogar wertvoll finden.
„Schweden zum Beispiel, die Heimat weltweit anerkannter Innovatoren wie Spotify und IKEA, fördert eine Kultur, in der Entdeckungen gefeiert werden. Die Betonung von Gleichberechtigung und kollaborativen Umgebungen schafft einen fruchtbaren Boden für zufällige Entdeckungen. In ähnlicher Weise hat der designorientierte Ansatz Dänemarks, eine Gesellschaft, in der es eine hohe Toleranz für Mehrdeutigkeit gibt, das Land zu einem Vorreiter in Sachen nachhaltige Innovation gemacht“, analysiert Jakob Müllner.
Im Gegensatz dazu neigen Kulturen mit hoher Unsicherheitsvermeidung, wie Japan und Griechenland, aufgrund ihrer stärkeren Ausrichtung auf Struktur und Planbarkeit möglicherweise weniger zu einem Serenditipty Mindset. Aber auch in diesen Kontexten können gezielte Bemühungen zur Förderung der interdisziplinären Zusammenarbeit und zur Schaffung psychologischer Sicherheit dazu beitragen, Serendipity zu fördern.
3. Im Privatleben:
Auch beim persönlichen Wachstum spielt der Zufall eine Rolle. Wenn wir an unsere eigenen Geschichten denken, werden viele von uns eine zufällige Begegnung, eine flüchtige Idee, die uns ins Auge fiel, oder ein einschneidendes Ereignis nennen können, das die Flugbahn unserer Karrieren (hoffentlich zum Besseren) verändert hat.
„Ich selbst beispielsweise, hatte, während der Taksim-Proteste, in einer Hotellobby in Istanbul eine Begegnung, die – was meine akademische Laufbahn anbelangt – eine Kette von Prozessen in Gang gesetzt und jeden Punkt meines Lebenslaufs beeinflusst hat: Damals fand eine Konferenz direkt neben dem Taksim Platz statt, was für viel Unsicherheit unter den Teilnehmern sorgte. Als die Proteste dann eskalierten und Teilnehmer im Konferenzhotel eingeschlossen waren, traf ich meine spätere Koautorin und mittlerweile gute Freundin von der NYU Stern. Bis heute besteht eine sehr enge Zusammenarbeit zwischen meiner gesamten Abteilung und der NYU. All das wäre ohne die Ereignisse am Taksim Platz und unsere Entscheidung, uns anzusprechen und zu vernetzen, nicht möglich gewesen“, verdeutlicht Jakob Müllner.
Serenditity als Gamechanger im Finanzwesen
„Aber als Finanzwissenschaftler steht die Vorstellung von Serendipity oft im Widerspruch zu den Grundlagen und der Ideologie unserer Disziplin. Ist es nicht die Aufgabe des CFO, Sicherheit zu schaffen, Überraschungen zu vermeiden und Konsistenz zu gewährleisten? Genauso ist es“, meint der Experte.
Aber: Auch wenn an dieser Unvereinbarkeit etwas Wahres dran ist, gibt es doch einige wichtige Erkenntnisse, die Finanzwissenschaftler und CFOs aus dem Serendipity-Gedanken mitnehmen können:
- Das Spannungsverhältnis zu traditionellen Finanzkonzepten
Das Serendipity-Mindset stellt einige Grundprinzipien des Finanzwesens in Frage. Traditionelle Finanzrahmen legen den Schwerpunkt auf Risikomanagement und Kosteneffizienz, wobei Vorhersehbarkeit, Optimierung und Minimierung der Unsicherheit im Vordergrund stehen. Dies steht von Natur aus im Widerspruch zur explorativen und unvorhersehbaren Natur von Serendipity.

Für CFOs ist es insbesondere in einer dynamischen und disruptiven Welt wichtig, den Zufall als mächtige Einflussgröße zu erkennen und in weiterer Folge schätzen zu lernen. Ein CFO muss sich der Limitationen seiner Instrumente und Forecasts bewusst sein. Marktineffizienzen oder Abweichungen von Prognosen sind nicht Anomalien, sondern in einem derartigen Umfeld die Regel. Es gilt, sie nicht abzutun, sondern zu analysieren und Strategien daraus abzuleiten.
- Wahrscheinliche vs. unwahrscheinliche Szenarien
Im Finanzwesen, wo datengesteuerte Entscheidungen dominieren, erfordert die Integration eines Serendipity-Mindsets nicht nur die Vorstellung von Wahrscheinlichkeiten, sondern zunehmend auch von unwahrscheinlichen Szenarien.
„Das Finanzwesen konzentriert sich in der Regel auf negative, disruptive Szenarien. Aus Serendipity-Sicht verdienen positive Entwicklungen zumindest die gleiche Aufmerksamkeit. Was es dafür unternehmensintern braucht? Eine abteilungsübergreifende Zusammenarbeit, die das Potential hat, innovative Finanzprodukte oder -strategien hervorzubringen, anstatt sich jenen Themen zu widmen, die ohnehin schon seit Jahren ganz oben auf der Agenda stehen“, erklärt Jakob Müllner.
Diese Themenoffenheit umfasst auch die Einbeziehung neuer Informationsquellen und Daten im Entscheidungsprozess. Die Turkey Illusion beschreibt die Blindheit von Menschen gegenüber drohenden Disruptionen, wenn die einzige Grundlage der Analyse eine historische Betrachtung ist.
- Kosteneffizienz vs. strategische Investitionen
Effizienz im Finanzwesen bedeutet oft auch Kostensenkung und Optimierung der Ressourcenverteilung. Leicht unterliegt man dem Trugschluss, dass alle Kosten auch einen Ertrag bringen müssen. Die Zuweisung von Ressourcen für ungeplante Unternehmungen oder Sondierungsprojekte mag unter dem Gesichtspunkt der Kosteneffizienz kontraproduktiv erscheinen, kann aber langfristig unverhältnismäßige Vorteile bringen, wenn sie effektiv verwaltet wird.
„Viele Investitionen und Kosten führen nicht zu einem positiven Ergebnis, aber wenn eine Serendipity-Investition einen finanziellen Wert schafft, ist dies in der Regel in großem Umfang der Fall und rechtfertigt somit viele gescheiterte Investitionen. Aus diesem Grund sind CFOs gut beraten, ähnlich einem Venture Kapitalisten, sich ein entsprechendes Serendipity-Mindset anzueignen“, ist Jakob Müllner überzeugt.
- Quantitativer vs. Qualitativer Fokus
Finanzielle Entscheidungen beruhen häufig auf quantitativen Daten und Modellen, wobei der Schwerpunkt auf messbaren Ergebnissen liegt. Serendipity hingegen lebt von qualitativen Erkenntnissen und der subjektiven Interpretation unerwarteter Ereignisse. Diese Divergenz kann es für traditionelle Finanzexperten nicht selten schwierig machen, Serendipity in vollem Umfang zu nutzen. Unternehmen, die Serendipity integrieren wollen, müssen daher Wege finden, um diese Spannungen auszugleichen.
„Eine Möglichkeit wäre es etwa, einen eigenen Innovationsfonds einzurichten oder separate Forschungseinheiten innerhalb der Organisation zu etablieren, die Serendipity ausprobieren können, ohne dabei in einem ersten Schritt direkte Auswirkungen auf die finanziellen Kernprozesse zu haben“, konstatiert Jakob Müllner.
- Prognosen und Bewertungen überdenken
Das Serendipity-Mindset stellt die traditionellen Ansichten über Prognosen und Bewertungen bei der Entscheidungsfindung in Frage.

Prognosen beruhen auf der Vorhersage künftiger Ergebnisse auf der Grundlage historischer Daten und aktueller Trends. Serendipity impliziert jedoch, dass die Zukunft von Natur aus unvorhersehbar ist und dass unerwartet auftretende Gelegenheiten selbst die fundiertesten Prognosen zunichtemachen können. Manager sollten Prognosen daher eher als Annäherungen, denn als Gewissheiten betrachten und sie eher als flexible Wegweiser, denn als starre Fahrpläne verwenden.
Einer CEO-Befragung des Beratungsunternehmens Horvath & Partner zufolge bewerten CFOs die Planungsfunktion mit 59% als wichtigste Funktion eines CFOs, während die Analyse mit nur 26% Zustimmung den letzten Platz auf der Prioritätenliste einnimmt. In einer unvorhersehbaren Welt ist Planung schwierig, bei zu hohem Vertrauen in die eigene Planung, vielleicht sogar gefährlich. Eine fundierte Analyse hingegen ist unerlässlich, um mögliche Quellen für Disruptionen zu erkennen und proaktiv Strategien zu entwickeln. Hier ist insbesondere auch die Verwendung von neuen Informationsquellen und Daten wichtig, da sich massive Marktbewegungen meist nicht in allgegenwärtigen Finanzkennzahlen ankündigen, sondern oft außerhalb des Finanzmarktes entstehen (zum Beispiel in Technologie oder Politik).
Diese Denkweise stellt auch die Zuverlässigkeit von Bewertungen in Frage. Bewertungen beruhen in der Regel auf prognostizierten Cashflows, Wachstumsraten und Marktbedingungen. Diese Annahmen können jedoch angesichts unvorhergesehener Entwicklungen schnell überholt sein. Serendipity unterstreicht die Notwendigkeit, Bewertungen als unvollkommen und vorläufig zu interpretieren und ihre Anfälligkeit für Fehler und Veränderungen anzuerkennen. Indem sie Flexibilität und Anpassungsfähigkeit in ihre Strategien einbeziehen, können Manager besser mit der Unvorhersehbarkeit der Zukunft umgehen.
Fazit:
Serendipity ist nicht nur eine reizvolle Idee, sondern ein mächtiges Werkzeug, um Innovationen voranzutreiben und Resilienz zu stärken. Sowohl Unternehmen als auch Einzelpersonen können mit dem entsprechenden Serendipity-Mindset aus dem Unerwarteten enormen Wert schöpfen und ungeplante Ereignisse in spielverändernde Chancen verwandeln.
Damit diese – zugegebenermaßen nicht ganz leichte – Übung gelingt, ist es notwendig, offen für Neues abseits traditioneller Finanzprinzipien und kultureller Denkweisen zu sein, um ein Gleichgewicht zwischen Neugier und Effizienz zu finden. Die Frage ist nicht, ob sich ein Serendipity-Moment ereignen wird, sondern ob Sie bereit sind, ihn zu nutzen, wenn er eintritt.