Die moderne Arbeitswelt, das oft zitierte BANI-Umfeld, bringt für Führungskräfte Herausforderungen mit sich, die über die bisherige Volatilität der VUCA-Welt hinausgehen.
Sie müssen daher Strategien entwickeln, um mit der Brüchigkeit (Brittleness), der Verunsicherung (Anxiousness), der Nicht-Linearität (Non-linear) und der Unverständlichkeit (Incomprehensible) dieser neuen Realität umzugehen. Doch wie können sie in solch einem Umfeld Orientierung und Sinn finden?
Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit
„Unsere Gesellschaft wird immer schnelllebiger und unsicherer, und es ist nicht nur schwer abzusehen, was morgen passieren wird, sondern aufgrund der Komplexität der Ereignisse nahezu unmöglich, Ursache und Wirkung noch klar zu differenzieren. Gerade Ereignisse wie die Corona-Pandemie oder der Ukraine-Konflikt haben uns gezeigt, dass das Leben weniger planbar ist als je zuvor“, erklärt Bodo Schlegelmilch.
In einer solchen Welt geht es nicht mehr nur um Volatilität, sondern um eine plötzlich auftretende Brüchigkeit; chaotische Zustände, die selbst stabile Systeme plötzlich und fundamental erschüttern können.
Diese Unsicherheit kann bei Führungskräften zu einer Art „Angststarre“ führen, die durch die Fülle an Informationen und Desinformationen und einer stetig steigenden „Workload“ noch weiter verstärkt werden.
Sinnorientiertes Handeln in turbulenten Zeiten
Einen wertvollen Ansatz liefert hier die japanische Lebensphilosophie des Ikigai. „Iki“ bedeutet so viel wie „Leben“, „kai“ bezeichnet den Sinn, einen Effekt, ein Ergebnis oder einen Nutzen. Die Zusammensetzung „Ikigai“ kann also als „Lebenssinn“ oder „das, wofür es sich lohnt, zu leben“ übersetzt werden. Als praktische Lebensphilosophie meint es auch, in den kleinen Dingen, Taten und Momenten Sinn zu finden und zu wissen, wofür man tagtäglich morgens aufsteht.
Klara Palucki muss es wissen, hat sie doch selbst die Suche nach ihrem Ikigai durchgemacht:
„Ich habe spät studiert. Mit 41 Jahren habe ich meinen Bachelor in Unternehmensführung und Personalmanagement gemacht. Nach dem Abschluss habe ich nicht sofort einen Job gefunden. Dann habe ich dieses Buch in meinem Bücherregal wiederentdeckt.“
Gemeint ist eines von mehreren Büchern, die ihre Leser zum Ikigai führen wollen. Sie beantwortete die vielen Fragen des Ikigai erfolgreich für sich selbst und hat danach – vor ihrer neuen Aufgabe an der WU Executive Academy – einige Jahre Frauen auf dem Weg zu einem neuen Job oder in anderen Veränderungsprozessen gecoacht, darunter auch viele Führungskräfte.
„Ich habe Frauen unterstützt, ihre Stärken zu erkennen und ihre beruflichen und persönlichen Ziele klarer zu definieren. Viele waren frustriert, weil ihnen Orientierung fehlte, aber durch Ikigai haben sie gelernt, wieder an ihre Fähigkeiten zu glauben und eine Vision und Ziele für ihre berufliche (und private) Zukunft zu definieren“, erörtert die Expertin.
Ikigai basiert auf vier zentralen Fragen, die im sogenannten Venn-Diagramm visualisiert werden:
1. Was liebst du?
2. Worin bist du gut?
3. Was braucht die Welt?
4. Wofür du bezahlt werden kannst?
Der Schnittpunkt (Ikigai) dieser vier Dimensionen ist der persönliche Lebenssinn. Gerade Führungskräften bietet Ikigai eine wunderbare Möglichkeit, nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Teams einen sinnorientierten, nachhaltigen Weg einzuschlagen.
Kompass für Führungskräfte
In der unvorhersehbaren BANI-Welt bietet Ikigai Führungskräften eine Art Kompass. Es hilft, den Fokus auf das Wesentliche zu richten und Entscheidungen wertorientiert zu treffen.
„In turbulenten Zeiten ist es entscheidend, sich seiner Werte klar zu werden und danach zu handeln. Ikigai hilft dabei, die innere Sicherheit zu finden, die man braucht, um auch in unsicheren Zeiten Kurs zu halten“, verdeutlicht Bodo Schlegelmilch.
„Wenn ich weiß, wohin ich gehen will, dann bin ich bereits auf dem Weg zur Selbstführung. Diese persönliche Klarheit ist eine Führungskompetenz, die sich positiv auf das gesamte Team auswirkt“, meint Klara Palucki.
Vom Self-Leadership zum Ikigai des Unternehmens
Führungskräfte, die den Sinn in ihrem Leadership erkannt haben, sind authentischer und inspirieren ihre Teams dazu, ebenfalls einen sinnorientierten Weg einzuschlagen. Sie fördern ein Arbeitsumfeld, in dem die individuellen Stärken und Interessen der Mitarbeitenden berücksichtigt werden. Job Crafting, also die aktive Gestaltung des eigenen Arbeitsumfelds und der Aufgaben, spielt dabei eine zentrale Rolle.
„Wenn ich in meinem Job nicht glücklich bin, kann ich mir in kleinen Schritten ansehen, welche Aufgaben mir liegen und welche weniger. Dadurch lässt sich ein Arbeitsumfeld schaffen, das besser zu den eigenen Bedürfnissen passt. Oft hilft es auch, genauer hinzuschauen, wo der Sinn abhandengekommen ist. Indem wir Aufgaben im Sinne von Job Crafting shiften und neu verteilen oder neue Projekte initiieren, können wir wieder Sinn entdecken“, konstatiert Klara Palucki.
Aber Führungskräfte sollten idealerweise nicht nur ihr eigenes Ikigai kennen, sondern auch das ihres Unternehmens. Denn: Dieselben Fragen, die sich jeder am Weg zum eigenen Ikigai stellen muss, können Führungskräfte auch für ihr Unternehmen stellen:
Firmen müssen etwas produzieren, für das sie Geld verlangen können und idealerweise ist das Produkt auch nützlich (Dimensionen drei und vier). Das geht nur, wenn die Angestellten des Unternehmens ihren Job gut machen (Dimension zwei). Damit die HR-Kosten nicht explodieren, sollten die Mitarbeiter ihre Arbeit zumindest so weit mögen, dass sie nicht nach dem Probemonat wieder weg sind (Dimension eins).
„Ikigai ist wie ein Rezeptbuch, um den Purpose eines Unternehmens zu finden“, analysiert Bodo Schlegelmilch.
„Letztendlich geht es aber darum, dass man Freude an dem hat, was man tut. Führungskräfte sollten sich fragen, warum sie das tun, was sie tun, und ob es ihnen auch tatsächlich Erfüllung bringt“, ergänzt der Dekan der WU Executive Academy.
Hier biete auch Weiterbildung eine Möglichkeit, wieder mehr Sinnorientierung in die eigene Karriere zu bringen. Diese Reflexion helfe nicht nur bei der persönlichen Sinnfindung, sondern stärke auch die Fähigkeit, die eigenen Mitarbeiter sinnorientiert zu führen und sie für ihre Aufgaben zu begeistern.
Klara Palucki lässt die Frage nach dem Sinn sogar in die Beratung ihrer MBA-Interessenten einfließen:
„Im persönlichen Beratungsgespräch hinterfrage ich gemeinsam mit ihnen ihre intrinsische Motivation für die Weiterbildung, wenn der Weg noch diffus ist und vielleicht nach äußeren Maßstäben nicht linear zur bisherigen Laufbahn passt. Und sobald diese Motivation klar ist, fällt die Entscheidung für die Weiterbildung bewusster.“
Fazit
Die BANI-Welt stellt Führungskräfte vor immense Herausforderungen, doch sie bietet auch Chancen, wenn sie bereit sind, sich auf neue Wege einzulassen. Ikigai als Instrument der Sinnfindung hilft dabei, die eigenen Werte und Ziele klar zu definieren und diese in Einklang mit der beruflichen Tätigkeit und dem eigenen Leadership als Führungskraft zu bringen.
Führungskräfte, die sich ihrer eigenen Motivation bewusst sind, können ihre Teams besser motivieren und gemeinsam eine sinnstiftende Arbeitskultur schaffen – die nachhaltig auf den Unternehmenserfolg einzahlt.
Klara Palucki bringt es abschließend auf den Punkt:
„Menschen wollen zunehmend Teil von etwas Größerem sein und bleiben eher im Unternehmen, wenn sie das Gefühl haben, dass ihre Arbeit einen (guten) Zweck erfüllt.“
In einer unsicheren und komplexen Welt wird Sinnorientierung daher vom Trend zur Notwendigkeit für modernes, nachhaltiges Leadership.