Die Aufregung ist dieser Tage groß: Wie wird KI unsere Arbeit verändern? Wer verliert seinen Job und ist die Art und Weise, wie wir die digitalen Werkzeuge einsetzen, wirklich im Sinne der Menschen, die sie nutzen? Und genau an diesem Punkt kommt ein neuer Ansatz ins Spiel: die Corporate Digital Responsibility, oder auch unter dem Namen, Digitaler Humanismus, bekannt.
„Starten wir doch gleich vorab mit den Schlussfolgerungen. Personalverantwortliche sind gut beraten, auf diese vier Prinzipien, bei der Auswahl und beim Einsatz digitaler Tools, im Unternehmen zu achten“; meint der Digitalexperte Martin Giesswein.
- Partizipation der Mitarbeiter bei Planung und Erstellung von digitalen Werkzeugen – besonders bei ethischen Fragen.
- Die Software-Entwicklung, besonders bei einer KI, muss transparent sein: Was passiert jetzt gerade im Umsetzungsprojekt, welche Daten werden verwendet, wie hoch ist die Verlässlichkeit?
- Die KI muss sich selbst erklären (Stichwort: „explainable AI“): Wie kommt die Maschine zu ihrem jeweiligen Ergebnis und kann ich es leicht nachvollziehen?
- Der Mensch ist Letztentscheider, und zwar basierend auf dem Input der Maschine UND der eigenen Erfahrung.
Fokus auf den Menschen
Diese vier Prinzipien stammen aus der Welt des Digitalen Humanismus. Dieser liefert Antworten auf unsere Bedenken und Hoffnungen rund um die heutigen technischen Möglichkeiten.
Die Definition des Begriffs ist einfach: Wir setzen eine digitale Technik nicht ein, weil es sie gibt, sondern nur, wenn es einen unmittelbaren Nutzen für unsere Mitarbeiter und Kunden hat, ethisch gesehen niemanden benachteiligt, betriebswirtschaftlich nachhaltig ist und es mit unseren Umweltschutzambitionen vereinbar ist.
„Gamechanger“?
Synonyme für den Begriff Digitaler Humanismus sind vielfältig. Der Bundesverband der Digitalwirtschaft in Deutschland, zum Beispiel, spricht von Corporate Digital Responsibility (CDR), eine logische Weiterentwicklung des Konzepts der Corporate Social Responsibility (CSR).
Manche Firmen haben ihre eigenen digitalen Prinzipien bereits direkt in der Gesamtstrategie verankert, andere planen ihre ESG- Initiativen (Environmental Social Governance) um ein „D“ (ESDG) für das Digitale auszuweiten.
„Egal, wie wir es nennen, wichtig ist, was dabei unter dem Strich rauskommt: Die Technologie ist da, um den Menschen bei seiner Arbeit zu unterstützen und ihm zu dienen – und nicht umgekehrt“, führt Dekanin Barbara Stöttinger aus.
Künstliche Intelligenz (KI) und der Wissenstransfer
„Ich habe, zum Beispiel, in den letzten Wochen KI-Systeme getestet, die eine große Erleichterung für den Wissenstransfer bald ausscheidender Mitarbeiter in Organisationen sein werden“, sagt Martin Giesswein und erklärt das Potential an einem anschaulichen Beispiel:
Anna ist 62 und wird nächstes Jahr in Pension gehen. Ein großer Verlust für ihre Firma, sie ist eine zentrale operative Kraft in der Buchhaltung, kennt alle Vorgänge und Prozesse und weiß, “wie es wirklich läuft”. Ihre Nachfolgerin ist noch gar nicht rekrutiert. In ihrem Arbeitsvertrag hat sie eingewilligt, dass ein Teil ihrer geschuldeten Leistung die Weitergabe des beruflichen Knowhows ist.
In weiterer Folge gibt es eine Betriebsvereinbarung, dass ein von ihr lernendes, digitales System, sie bei allen Arbeitsschritten für ein Jahr begleiten darf, ohne eine ungebührliche Arbeitskontrolle zu generieren. Das Tool lernt von ihrer Arbeit, zeichnet reale Prozesse nach und bekommt auch immer wieder zusätzliche erklärende Spracheingaben von Anna. Einmal im Monat kontrolliert Anna die Richtigkeit des Lernergebnis.
Ihr Nachfolger wird so ein reales Abbild der tatsächlichen Arbeit als Einschulung erhalten, und Anna wiederum wird in ihrer Pension basierend auf einer geringfügigen Weiterbeschäftigung ihrer ehemaligen Firma zur Verfügung stehen, wenn ihr Nachfolger Bedarf für einen fachlichen Austausch, oder Fragen zu einem konkreten Arbeitsschritt hat.
Recruiting: Maschine gegen Maschine?
„Bewerber senden KI-generierte CVs und Motivationsschreiben. In der HR-Abteilung sieht kein Mensch diese Dokumente, auch hier entscheidet eine KI, ob der Bewerber eine Runde weiterkommt. Während ich verstehe, dass das für Unternehmen bei der Fülle an CVs, die sie oft bekommen, notwendig sein kann und vielleicht auch zur Reduktion von menschlichen Biases führt, stellt sich doch die Frage, ob es uneingeschränkt sinnvoll ist“, analysiert Barbara Stöttinger die neue Realität und ergänzt: „Vielleicht aber schaffen wir mit Hilfe der Technik einen völlig anderen Weg.“
Zum Beispiel können Bewerber ein 30-Sekunden-Video generieren, um sich vorzustellen. Mit einem Wasserzeichen und einer staatlich gesicherten Identifikation (eiD) wird sichergestellt, dass das Video nicht von einer KI oder einer dritten Person generiert wurde. In einer halben Minute bekommt man somit einen ersten, guten Eindruck über die Person.
„Das können wir Menschen definitiv besser als eine Maschine“, analysiert Barbara Stöttinger.
Die unterstützende KI gibt an, dass die angegebenen Daten die Stellenbeschreibungen matchen. Schließlich kommt es zu einem persönlichen Online- oder Offline-Treffen im Rahmen eines klassischen Recruiting-Prozesses.
„Recurring Questions“
Viele Fragen werden der Personalabteilung immer wieder gestellt: Wie bekomme ich mein Dienstzeugnis, wie funktioniert die Zeiterfassung, unterbricht ein Krankenstand meinen Urlaub? Mehr und mehr Firmen setzen hier bereits HR-Chatbots ein, die immer wiederkehrende „Standard“-Fragen erkennen und dann eine Antwort geben.
Ein Beispiel wäre hier der hochskalierte „WienBot“ der Antworten zu Stadtservices liefert: Öffnungszeiten der Bäder, nötige Unterlagen für eine Passverlängerung, Hilfe beim Antrag für den Energiekostenzuschuss, etc.
„Die Qualität dieser Chatbots ist zurzeit höher als die einer KI, weil die Antworten von Menschen erstellt und fix im System hinterlegt sind oder auf verlässliche Quellen (Website und Datenbanken der Stadt Wien) zugreifen. Eine KI hingegen konstruiert die Antwort in jedem Fall neu und läuft Gefahr, eine Halluzination zu generieren, also einer inhaltlich falschen, aber verdächtig realistisch wirkenden Antwort“, konkretisiert Martin Giesswein.
In Zukunft ist es zu erwarten, dass KI-Systeme eine höhere Qualität erreichen werden und das aufwändige Erstellen der Antworten ihnen übertragen werden kann.
Lerninhalte selbst erstellen
Ob Text, Audio, Video oder Bild: Mit neuartigen Services von Midjourney, OpenAI oder D-ID aus Israel wird die Planung und Umsetzung von Online-Lernen revolutioniert. Kostengünstige Produktion und jederzeit mögliche Veränderung eines digitalen Lerninhalts werden für HR-Manager auch ohne Programmierkenntnisse möglich.
In den nächsten Jahren werden sich die Angebote der klassischen Online-Lernplattformen und Content-Agenturen massiv weiterentwickeln.
„Auch ich als Vortragender für Digitalökonomie muss in 5 Jahren nicht mehr „live“ vor 25 Personen in einem realen Raum Theorie vermitteln, sondern interessierte Teilnehmer können wählen, ob sie mich im Hörsaal erleben wollen, oder über meinen Avatar jederzeit online auf meine aktuellen Inhalte interaktiv zugreifen möchten, eine enorme Verbesserung gegenüber den heutigen “statischen” Videos und Podcasts“, erörtert Martin Giesswein.
Gute Software: „Value-based Engineering“
„Im Rahmen des Digitalen Humanismus bieten sich neue Standards in der Konfiguration und Erstellung von Softwaresystemen an. Im Dreiklang von IT-Abteilung, HR und Vertreter der späteren User werden dabei Systeme gemeinsam geplant, damit sie den ethischen Bedürfnissen aller Stakeholder entsprechen“, erläutert Barbara Stöttinger.
In diesem Prozess werden sogenannte Ethical Value Requirements definiert, die die Funktionen der späteren Systeme mitbestimmen. Dafür gibt es einen Standard und eine Zertifizierung (nähere Informationen hier).
Sarah Spiekermann-Hoff von der Wirtschaftsuniversität Wien hat als Vize-Chair diesen Standard seit 2016 maßgeblich mitentwickelt. IT-Unternehmen, die UNO und auch die Stadt Wien verwenden bereits diesen neuen Standard. Die Beweggründe für Unternehmen können dabei vielfältig sein: Das geht von tatsächlich empfundener ethischer Verantwortung der Manager über Absicherung für spätere mediale oder rechtliche Konflikte bis hin zur Steigerung der Softwareakzeptanz und -Nutzung im Unternehmen.
Kultur des Unternehmens
Bewerber, die sich zwischen zwei Firmen entscheiden können, fragen immer mehr nach der wahren Kultur der Firma. Kununu und andere Dienste versuchen das abzubilden. Die Auszeichnung oder Zertifizierung als Unternehmen, das die Prinzipien des Digitalen Humanismus lebt, könnte hier eine Entscheidung für das eigene Unternehmen leichter machen.
„Ähnlich wie bei der ökologischen Verantwortung eines Unternehmens darf es aber kein Greenwashing geben, also mehr Schein als Sein. Nur so zu tun, als würde man die digitalen Werkzeuge mit Fokus auf den Menschen verwenden, könnte als “Humanism-Washing” enttarnt werden und einen negativen Effekt haben“, warnt Martin Giesswein.
Darstellung des Unternehmens
Heute wird die Außenwahrnehmung eines Unternehmens stark durch journalistische Berichterstattung, die eigene Online-Präsenz und Kununu bestimmt.
„Versuchen Sie doch mal, ChatGPT danach zu fragen, ob Ihre Firma eine gute Arbeitgeberin für einen bestimmte Job-Rolle ist. Die KI ist offensichtlich bereits darauf trainiert, zu sagen, dass sie das nicht abschließend beantworten kann, spuckt dann aber doch ca. 400 Worte darüber (in unserem Fall die WU Executive Academy) aus“, so Barbara Stöttinger abschließend.
Die Fragestellung für HR-Manager ist somit klar: Wie können wir in der Zukunft sicherstellen, dass die (richtige) Informationen über das eigene Unternehmen in das Trainingsmaterial der KI einfließen? Selbst technisch ist diese Frage noch unbeantwortet, ein aktives Auseinandersetzen zu dem Thema aber ab sofort hilfreich, um die Gefahr der unrichtigen oder tendenziösen KI-Angaben über das eigene Unternehmen in Zukunft zu reduzieren.
So oder so sind es spannende Zeiten für HR-Manager.