Fakten zu Covid-19

Was die Wissenschaft sagt – und nicht die Tagespolitik.
© CDC/ Alissa Eckert, MS; Dan Higgins, MAM

Teilen:

Facebook
Twitter
LinkedIn
WhatsApp

Die Parallelen zu den wirtschaftlichen Auswirkungen sind frappant: Dutzende, wenn nicht Hunderte Milliarden Euro (bzw. Dollar) geistern derzeit tagtäglich wahlweise als Verluste oder mögliche Zuschüsse durch die globale Öffentlichkeit. Wenn das Virus selbst „berechnet“ wird, kommt es zu ähnlichen Erscheinungen: Schon die nackten Zahlen können verwirren – und deren Interpretationen dann noch deutlich mehr.

Es kommt eben (allzu) oft auf die wissenschaftliche Integrität und gelegentlich – denkt man an die Politik – wohl auch auf den guten Willen bzw. wahlweise auf den vielzitierten gesunden Menschenverstand an. Dazu zwei Beispiele, das erste kommt von der ETH Zürich. Dort haben Wissenschaftler eine mögliche zweite Pandemiewelle in der Schweiz berechnet. Eine solche dürfte deutlich langsamer anrollen als die erste, schliessen Dirk Mohr, Professor für Numerische Materialmodellierung am Departement Maschinenbau und Verfahrenstechnik, sowie Fadoua Balabdaoui, Senior Scientist am Seminar für Statistik, aus ihrem neuen mathematischen Modell. „Die Behörden werden daher im Vergleich zur ersten Welle mehr Zeit haben um zu handeln und um Massnahmen laufend anzupassen“, sagt Mohr. Die Gesellschaft habe einen Lernprozess durchgemacht und verhalte sich heute vorsichtiger als zu Beginn der Pandemie. Selbst wenn die Reproduktionszahl in den nächsten Wochen und Monaten wieder über 1 steigen sollte, werde sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr so hoch sein wie zu Beginn der ersten Infektionswelle Anfang März.

In einer zweiten Welle wird es in der Schweiz daher auch kaum zu einem Engpass im Gesundheitswesen kommen. „Das ist einerseits eine gute Nachricht, andererseits aber auch trügerisch“, warnt Mohr. „Besonders heimtückisch wäre eine sehr langsam ansteigende zweite Welle mit einer Reproduktionszahl nur knapp über 1“. Auch eine solche könnte zu einer sehr grossen Zahl an zusätzlichen Todesfällen führen. „Um möglichst viele davon zu verhindern, müssen Behörden zu einem Zeitpunkt Massnahmen beschliessen, an dem die Spitäler nicht in der Nähe eines Kollapses stehen. Ohne einen Kapazitätsengpass vor Augen nimmt die Bevölkerung die Bedrohung möglicherweise nicht wahr oder ihr fehlt das Verständnis für einschränkende Massnahmen.“

Massnahmen in allen Bereichen sinnvoll

Um die Zukunftsszenarien berechnen zu können, kalibrierten die Wissenschaftler ihr Modell mit den von den Kantonen veröffentlichten offiziellen Zahlen der Vergangenheit. Wie beim Erstellen einer Wetterprognose berechnete das Modell die Zukunft – Modell und Berechnungen haben die Wissenschaftler auf der Plattform Medrxiv veröffentlicht. Nach ihrem Wissen handelt es sich bei ihren Modellrechnungen um die ersten, die für die Schweiz sehr detailliert auch die Demografie und die altersspezifischen Kontaktmuster berücksichtigen. So gelang es ihnen, für die erste Pandemiewelle die Reproduktionszahl für jede Altersgruppe gesondert zu berechnen. Dabei zeigte sich, dass in der Schweiz die 10- bis 20-​Jährigen sehr stark und die 35- bis 45-​Jährigen ebenfalls überdurchschnittlich zur Verbreitung des Virus beitragen. Die Senioren hingegen tragen stark unterdurchschnittlich dazu bei.

Die Zahl der zu erwartenden Todesopfer bei einer allfälligen zweiten Welle hängt stark von ihrem Ausmass und ihrer Dauer ab, wie die Berechnungen zeigen. Ein Szenario der Wissenschaftler geht während einer zweiten Welle von folgenden Annahmen aus: Im öffentlichen Leben gelten dieselben Abstandsregeln wie jetzt, 30 Prozent der Arbeitskräfte würden im Homeoffice arbeiten, alle Schulen wären normal geöffnet, ohne dass dort besondere Massnahmen gelten würden (= Verhalten der Schüler wie vor der Pandemie). In diesem Szenario ist in einer zweiten Welle in der Schweiz mit 5000 weiteren Covid-​19-Toten zu rechnen – zusätzlich zu den Opfern der ersten Welle, deren Zahl derzeit bei mehr als 1600 liegt. Wegen der längeren Dauer der zweiten Welle würde der maximale tägliche Bedarf an Intensivbetten immer noch unter dem der ersten Welle liegen.

Die Modellrechnungen machen jedoch deutlich, dass alle Massnahmen, welche die Übertragungswahrscheinlichkeit reduzieren, die Zahl der Todesfälle in der Bevölkerung stark verringern würden. Dies gilt für Massnahmen bei allen Altersstufen, insbesondere bei der erwerbstätigen Bevölkerung und den 10- bis 20-​jährigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Die Wissenschaftler legten in ihrer Studie einen besonderen Fokus auf diese letzte Altersgruppe: Würde sich die Übertragungswahrscheinlichkeit in den Schulen durch konsequent eingehaltene Abstandsregelungen und Hygienemassnahmen halbieren, sänke die erwartete Anzahl zusätzlicher Todesfälle in der Gesamtbevölkerung von 5000 auf unter 1000. ETH-​Professor Mohr: „Wir müssen uns bewusst sein: Wenn die Reproduktionszahl über 1 liegt, lohnen sich Massnahmen in den Schulen, bei der Arbeit und im öffentlichen Leben. Sie mögen im Einzelfall übertrieben erscheinen, doch sie retten immer Menschenleben!“

Sicher kein Glücksspiel: Ein „Lock-down“ eine Woche später hätte die CoV-Zahl vervierfacht.

„Lock-down“ eine Woche später hätte CoV-Zahl vervierfacht

Auch hierzulande gibt es spannende Berechnungen. Bekanntlich wurde in Österreich am 16. März der „Lock-down“ zur Eindämmung der Pandemie verfügt. Hätte man nur sieben Tage später reagiert, wäre es in etwa zu einer Vervierfachung der positiv getesteten Fälle gekommen (40.000 statt rund 10.000) und mehr als tausend (statt 250) Intensivbetten wären belegt gewesen, meint der Simulationsexperte Niki Popper von der Technischen Universität Wien. Diese Modellrechnung fokussiere sich „ausschließlich auf die Wirksamkeit der gesetzten Maßnahmen“.

Österreich habe nicht zu viele Kapazitäten freigehalten, bestätigt Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne). „Hätten wir nicht frühzeitig reagiert, hätte es dazu geführt, dass wir bis an die Grenzen der Möglichkeiten gegangen wären.“ Zum Höhepunkt der Pandemie hatten die Österreicher ihre Kontakte um rund 90 Prozent reduziert. „Das gemeinsame Reduzieren von Freizeitkontakten war enorm wichtig“, erläutert Popper. Ein Rückgang von 50 Prozent hätte die Kurve wiederum weiter steigen lassen.

Zum Höhepunkt der Pandemie hatten die Österreicher ihre Kontakte um rund 90 Prozent reduziert.

In den vergangenen Wochen ist hierzulande immer wieder die Wichtigkeit von Containment und Tracing betont worden – und auch das hat Popper simuliert. Eine Reaktionszeit von 3,8 Tagen, bis Infizierte aus dem Kontaktnetzwerk herausgenommen werden und niemanden mehr anstecken können, bedeute ein langsames Wachstum der Zahlen. „Wenn wir länger brauchen, um Menschen rauszunehmen, bei 5,7 Tagen etwa, geht die Kurve sehr schnell wieder nach oben“, plädiert Popper dafür, die Reaktionszeit zu verkürzen.

Und es kann auch psychisch krank machen!

In einem aktuellen „Lancet“-Beitrag beschreiben Forscher, dass eine Covid-19-Infektion auch zu Angststörungen, Schlaflosigkeit oder Gedächtnisproblemen führen kann. Die Wissenschaftler durchsuchten verschiedene Datenbanken und schlossen 65 Studien und sieben vorveröffentlichte Studien (Preprints) in die Auswertungen ein. Insgesamt umfassten die Auswertungen 3559 Infektionsfälle mit den drei Coronaviren SARS-CoV, MERS-CoV und eben SARS-CoV-2. Das Alter der Infizierten reichte dabei von 12,2 bis 68, die Patienten wurden zwischen 60 Tagen und 12 Jahren beobachtet.

In ihrem Review konnten die Wissenschaftler während einer akuten Erkrankung häufig folgende Symptome ausmachen: Verwirrtheit (36 von 129), depressive Verstimmung (42 von 129), Angststörungen (46 von 129), Gedächtnisstörungen (44 von 129) und Schlaflosigkeit (54 von 129 Patienten). Bei 13 von 1744 Patienten mit SARS kam es zu Steroid-induzierten Manien und Psychosen.

In der Phase nach der akuten Erkrankung kam es zu depressiven Verstimmungen (35 von 332), Schlaflosigkeit (34 von 280), Angststörungen (21 von 171), Reizbarkeit (28 von 218), Gedächtnisstörungen (44 von 233) und Fatigue (61 von 316 Patienten). In einer Studie litten 55 von 181 Patienten an traumatischen Erinnerungen und 14 von 14 an Schlafstörungen. In der Meta-Analyse werteten die Wissenschaftler die Prävalenz zu einem Zeitpunkt aus: für post-traumatische Stresserkrankungen lag die Prävalenz bei 32,2, für Depressionen bei 14,9 und für Angststörungen bei 14,8 Prozent. 446 von 580 Patienten aus sechs Studien konnten nach durchschnittlich 35,5 Monaten wieder zu Arbeit gehen.

Daten einer Studie zu Patienten mit Covid-19 zeigten Anzeichen für häufiges Auftreten von Delirium. Verwirrung zeigte sich bei 26 von 40 Patienten auf der Intensivstation, Unruhe bei 40 von 58. Eine andere Studie zeigte Bewusstseinsveränderungen bei 17 von 82 Patienten. Andere Daten zeigten wiederum bei 33 Prozent von 45 Patienten nach der Entlassung ein dysexekutives Syndrom (Frontalhirnsyndrom). Es gab außerdem zwei Berichte von hypoxischer Enzephalopathie und einen Bericht über Enzephalitis.

Ohne Kommentar: Nackte Zahlen – rund um die Welt

Stand: 22. 5. 2020

Land: Einwohnerzahl/Infizierte/Todesfälle

  • Österreich: 8,9 Mio./16.343/633
  • USA: 327,2 Mio./1.582.466/94.327
  • Russland: 144,5 Mio./308.705/2.972
  • Spanien: 46,7 Mio./279.524/27.888
  • Großbritannien: 66,4 Mio./248.293/35.704
  • Italien: 60,5 Mio./227.364/32.330
  • Frankreich: 57 Mio./181.575/28.132
  • Deutschland: 82,8 Mio./178.443/8.259
  • Türkei: 83,2 Mio./152.587/4.222
  • Iran: 81,8 Mio./126.949/7.183
  • Belgien: 11,5 Mio./55.983/9.150
  • Niederlande: 17,3 Mio./44.447/5.748
  • Schweden: 10,2 Mio./31.523/3.831
  • Schweiz: 8,6 Mio./30.658/1.892
  • Tschechien: 10,7 Mio./8.698/304
  • Ungarn: 9,8 Mio./3.598/470
  • Griechenland: 10,7 Mio./2.850/166
  • Kroatien: 4,1 Mio./2.234/96
  • Slowenien: 2,1 Mio./1.468/105

Das könnte Sie ebenfalls interessieren:

Melden Sie sich hier an

Sie sind noch nicht registriert?