Wenn von Europa die Rede ist, wird sofort an Deutschland und Frankreich gedacht. Dieses Tandem war in der Vergangenheit oft wegweisend oder entscheidend, jedenfalls aber unverzichtbar. Doch das „Duo“ kämpft derzeit mit Atemnot:
Präsident Macron gelingt es in Frankreich nicht, eine stabile Regierung herzustellen, die dringend notwendige Handlungen auch zur Stärkung der Wirtschaft setzt. Dementsprechend gering ist auch der Einfluss Frankreichs auf europäischer Ebene.
In Deutschland gelingt es Bundeskanzler Scholz nicht, den zwischenzeitlich dramatischen Verlust an Standortqualität und Glaubwürdigkeit durch entschlossenes Regierungshandeln in den Griff zu bekommen. Dementsprechend ist auch sein Einfluss auf der europäischen Ebene gering.
Länder der zweiten Reihe, wie Italien, Spanien oder Polen setzen auf europäischer Ebene keine sichtbaren und spürbaren Initiativen. Weitere Länder, wie Österreich, hätten allein aufgrund ihrer großen Anzahl große Einflussmöglichkeiten, verstehen jedoch nicht, sich auf gemeinsame Zielsetzungen zu verständigen, um auf diese Weise auf EU-Ebene hörbarer und einflussreicher zu werden. Leider gilt dies auch für Österreich, das betreffend europäische Initiativen, gelinde gesagt, einigen Aufholbedarf hat.
Renaissance europäischer Institutionen?
Angesichts dieser Analyse könnte mal einmal mehr die Situation Europas bedauern und die Flügel resigniert hängen lassen. Man könnte es aber auch andersherum sehen:
Die Schwäche führender Nationen könnte zu einer neuen Stärkung der europäischen Institutionen führen. Eine neue Kommission ist im Entstehen und sie hat gewaltige Aufgaben zu erfüllen – Standort sichern, Initiativen für Frieden setzen, eine realistische Klimapolitik voranzutreiben, ein Konzept für die internationale Flüchtlings- und Migrationsbewegung zu erstellen. Ebenso die Förderung von Innovation, talentorientierter Qualifikation und massiver Bürokratieabbau sind dringend anstehende Notwendigkeiten, denen sich das neu gewählte Parlament und die neu bestellte Kommission zu stellen haben.
Sie hätten nunmehr die Chance dazu, ohne dass ihnen bei jeder Gelegenheit jemand ins Ruder greift.
Ursula von der Leyen wurde in der Vergangenheit oft angegriffen, weil sie viel angekündigt, demgegenüber aber wenig bewegt hat. Ich habe sie immer damit verteidigt, dass sie nur so weit gehen kann, wie das die führenden Nationalpolitiker gestatten.
In ihrer zweiten Amtszeit könnte sie nun die nationalen Schwächen nutzen und beweisen, dass sie imstande ist, das Notwendige und Richtige zu tun, um dadurch Europa im weltweiten Wettbewerb zu stärken.
Autor: Christoph Leitl