Helga Pattart-Drexler, Head of Executive Education der WU Executive Academy, und Martin Giesswein, international anerkannter Digital-Leadership-Experte, analysieren, wie Top Leader zu echten Digital Gamechangern werden können und welche acht Leadership-Stärken ausschlaggebend sind, um am digitalen Spielfeld der Zukunft bestehen zu können.
Dass Unternehmen dazu neigen, die Macht der Digitalisierung zu unterschätzen, ist nichts Neues. Martin Giesswein, Digitalisierungsexperte und Autor des Buchs „Digitale Gamechanger“ kann ein Lied davon singen: Schließlich hat er als einstiger General Manager und Marketing Manager CEE bei Nokia den Niedergang des Handyherstellers live miterlebt. „Wir haben damals die Märkte missverstanden und die Digitalisierung unterschätzt – deshalb haben wir auch das Match gegen die bereits damals digital fitten Mitbewerber Apple oder Google verloren“, erzählt er. „Mir tut es von Herzen weh, wenn ich beobachte, dass Führungskräfte in ihren Unternehmen nach wie vor dieselben Fehler machen.“ Heute hilft er anderen Unternehmen dabei, ihre Digitalisierungsstrategien erfolgreich und vor allem tiefgreifend umzusetzen.
„In Europa waren die wenigsten Unternehmen in den vergangenen 20 Jahre Digital Leaders, sondern Digital Followers im Vergleich zu den USA oder asiatischen Ländern“, sagt Helga Pattart-Drexler, Head of Executive Education der WU Executive Academy. Unsere Unternehmen benötigen jetzt dringend mehr digitales Know-how – und am wirkungsvollsten geht das in Gestalt von „Digital Gamechangern“ im eigenen Unternehmen.“
Weltweit kämpfen die US-stämmigen Tech-Unternehmen Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft und asiatische Konzerne wie Baidu, Alibaba und Tencent um die weltwirtschaftliche Vormachtstellung. Für europäische Unternehmen und deren Manager ist es also höchste Zeit, das Spiel zu ändern. Doch wie wird man zum Digital Gamechanger?
Digitales Management-Update
„Manche Führungskräfte aus traditionelleren Industrien sind häufig verwöhnt vom bisherigen Erfolg, andere sind sehr aufgeschlossen für neue Geschäftsmodelle. Für alle ist es wichtig, die digitalökonomischen Spielregeln und digitalen Modelle zu verstehen, um auf dem Spielfeld künftig eine Chance zu haben“, sagt Helga Pattart-Drexler. Auch Martin Giesswein hält die bisweilen aufkeimende „Erfolgsarroganz“ für gefährlich: „Vor ein paar Jahren hieß es, ein Fintech wie N26 wird es niemals schaffen.“ Inzwischen hat das von zwei Österreichern gegründete Unternehmen rund fünf Millionen Kunden und gilt als das wertvollste Fintech-Unternehmen Deutschlands.
„Unser Ziel ist es, Führungskräfte so schnell wie möglich auf den neuesten Stand zu bringen und damit den Unternehmen quasi ein digitalökonomisches Update auf die Managementfestplatte zu spielen, das sie sofort nutzen können“, sagt Giesswein. Dass die Früchte nicht lange auf sich warten lassen, zeigt ein Beispiel einer großen deutschen Organisation. Im Jahr 2017 trainierten die beiden Experten eine Führungskraft aus diesem Unternehmen. „Heute ist er Leiter eines Startup-Spinoffs, das datengestützte Finanzmodelle plattformbasiert anbietet“, erzählt Giesswein. „Und so ist es kein Zufall, dass wir Themen wie Data Science, Digital Transformation oder Blockchain als elementare Bestandteile in vielen Lehrangeboten der WU Executive Academy verankert haben“, sagt Pattart-Drexler. Die Nachfrage dafür steige unaufhörlich.
Von Selbstvermarktern, Verhinderern und Performern
„Bei genauerer Betrachtung kristallisieren sich – mit wenigen Ausnahmen – drei Gruppen von Führungskräften heraus“, berichtet Giesswein. „Die einen fordern Autonomie, ignorieren aber das Alignment und betreiben dann oberflächliche Digitalisierung, die der Selbstvermarktung dient.“ Die tatsächlichen digitalen Gamechanger und Innovatoren „sind nach drei Jahren noch an der umfassenden Digitalisierungsstrategie dran“. Die Verhinderer würden selbst mit Unterstützung den Weg ins 21. Jahrhundert verweigern. Und schließlich die Performer, die sich wiederum zu stark auf das Tagesgeschäft fokussieren und die Innovation zu sehr hintanstellen.
Als Faustregel gilt: Je nach Branche und Größe benötigen Unternehmen zwischen fünf und 20 Prozent digitale Gamechanger in den mittleren Führungsebenen, um eine Digitalisierungsstrategie erfolgreich umzusetzen. „In der Mitte der Hierarchie liegt die größte Gestaltungs- und Umsetzungsmacht“, meint Giesswein. „Das Topmanagement muss die Digitalen Gamechanger aber unterstützen, sonst ist der Gegenwind für sie zu groß“, ergänzt Helga Pattart-Drexler. Diese acht Leadership-Stärken zeichnen echte Digital Gamechanger (DG) aus:
DG stärken das digitale Mindset im Unternehmen
„Man ist jahrelang in seiner Komfortzone, weiß, wie das eigene Geschäft erfolgreich läuft und dann soll man plötzlich alles anders machen. Viele Menschen verstehen das Neue als Abwertung der alten Arbeits- und Führungsweise und nehmen es persönlich“, erläutert Pattart-Drexler.
Daher ist Offenheit und Bewusstsein für neue Geschäftsstrategien und Geschäftsfelder, neue Arbeitsweisen und digitale Technologien die Basis, um erste Schritte gehen zu können. Dabei helfen Trainings, e-Learning, Podcasts, Meetings und Events zum Thema. Giesswein rät dazu, in „virtuellen Meetings und auf internen Tagungen das derzeitige Mindset im Unternehmen zu beleuchten: Wo stehen wir in Sachen Digitalisierung und wohin wollen wir die nächsten fünf Jahre?“ Gleichzeitig sei es auch wichtig, nicht mehr als drei Projekte pro Jahr zu initiieren, um das eigene Team nicht zu überfordern.
DG nehmen eine Dosis Digitalökonomie intravenös
Top Leader benötigen einen digitalökonomischen und geopolitischen Überblick: Welche Unternehmen im Plattform-Business reüssieren gerade? Was haben sie gemacht, um erfolgreich zu sein? Was können wir von ihnen lernen? Inhalte zu digitalen Geschäftsmodellen, Data Usage, Plattform-Logiken, etc.
„Apple beispielsweise hat ein geschlossenes Ökosystem mit seinen Partnern und Mitbewerbern etabliert, das ihnen erlaubt, den Konsumenten mit verschiedenen Produkten und Dienstleistung „zu umzingeln“. Ein Aussteigen aus diesem digitalen Ökosystem ist teuer und mühsam“, so Giesswein.
DG lernen von Blaupausen – und adaptieren sie
„Wir bringen unseren Teilnehmern in den Workshops die größten Learnings der 30 erfolgreichsten Digitalisierungsunternehmen nahe“, sagt Giesswein.
„Mit diesen Blaupausen beschäftigen sie sich zwei bis drei Tage intensiv und können sie dann für ihr Unternehmen sofort adaptieren und umsetzen.“ Auf diese Weise kann das eigene Risiko minimiert, Fehler vermieden und der Innovationserfolg erhöht werden.
DG planen in Szenarien
Ein Digitalisierungsprojekt in Meilensteinen bis zum Zeitpunkt X abarbeiten – das ist ein hehrer Wunsch so mancher Unternehmen, „er funktioniert nur leider in der Praxis nicht“, so Giesswein. Dazu ist die Digitalisierung zu mehrdimensional und komplex.
Digitalisierungsvorhaben solle man maximal drei Jahre planen und dabei stets mehrere mögliche Szenarien – durchaus längerfristig für zehn bis 20 Jahre – entwickeln, auf die man sich vorbereiten könne.
DG setzen echte Strategien um – und tun das iterativ
„Die Digitalisierungsprojekte müssen in der Gesamtstrategie verankert und vom Topmanagement mit- und vorgelebt werden“, fordert Pattart-Drexler. Die Digitalisierung sei kein Nebenschauplatz und auch nichts, was man irgendwann wieder ad acta legen kann.
„Leider sind die Digitalstrategien in manchen Unternehmen recht oberflächlich geraten“, gibt Pattart-Drexler zu bedenken. Das Geschäftsmodell von Grund auf neu auszurichten und die KPIs auszubauen, sei nicht einfach und brauche Zeit und Kontinuität. Rein punktuelle Digitalisierungsprojekte reichen jedenfalls nicht. „Die Gefahr besteht zu sagen: das Pilotprojekt hat punktuell nicht funktioniert, also lassen wir es.“ Damit man nicht am Bedarf vorbei entwickelt, sei die Umsetzung in iterativen Schleifen notwendig. Alle zwölf Monate sollten bisherige Digitalisierungsprozesse beleuchtet und die nächsten Schritte wieder von Null weg geplant und umgesetzt werden. Die Rückschau solle demnach der Vorschau dienen.
DG kommunizieren transparent und ständig
Wesentlich sei eine klare und durchgehende Kommunikation mit den Mitarbeitern: „Das Top-Management darf keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass die Digitalisierung oberste Priorität hat und muss auch dafür Sorge tragen, dass sie auch als Strategie in allen Geschäftsbereichen implementiert wird“, so Giesswein.
DG halten durch und enttarnen Hypes
„Im zweiten Jahr einer Digitalisierungsinitiative erkennt man in der Regel, wenn das Top-Management nicht mehr mit Überzeugung dahintersteht“, weiß Giesswein.
Das passiere oft aus einem Aktionismus heraus, stets das neueste Tool oder den nächsten Ansatz haben zu wollen. Wesentlich sei es, die Veränderung auch durchzuhalten: „Es ist kontraproduktiv, den Fokus jedes Jahr auf neue Hypes und Tools zu setzen.“
DG kalkulieren stets das Innovationsrisiko mit ein
„Nicht jeder Prototyp, nicht jedes Minimal Viable Product wird erfolgreich sein“, erkennt Giesswein. So funktioniert Innovation eben nicht. Sie birgt immer auch ein Risiko in sich. Wenn ein Projekt oder Produkt scheitert, sei es wichtig, ergebnisorientiert zu bleiben: „Suchen Sie die Ursachen, nicht die Schuldigen“, rät er.
Grobe Fehler seien allerdings zu vermeiden: „Die halbherzige Umsetzung der Digitalisierung – wie etwa einen Chief Digital Officer zu installieren, aber sonst nichts für Digitalisierung zu tun, das Negieren des heute datengetriebenen Business oder fehlendes Verständnis für digitale Business-Modelle – würde ich als grob fahrlässig bezeichnen. Auf diese Weise ist ein Digitalisierungsprojekt a priori zum Scheitern verdammt“, so Giesswein.