China, der weltweit größte Automobilmarkt, ist längst nicht mehr das „El Dorado“ der europäischen Automobilhersteller. Marktanteile europäischer Hersteller sind in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen, und Ende 2022 haben diese schließlich die Marktführerschaft verloren. Ein Mitgrund ist, dass Europas Autoindustrie bei der Elektromobilität von chinesischen Herstellern überholt wurde, wie eine Studie der Kreditversicherer Acredia und Allianz Trade zeigt.
„In China stammen 80 Prozent der neu zugelassenen Elektrofahrzeuge von chinesischen Herstellern und so wie es aussieht, werden ihre Marktanteile weiter kräftig wachsen, was zu Lasten europäischer Autobauer und deren chinesischer Tochtergesellschaften und Joint Ventures geht. Das sind trübe Aussichten für die europäischen Autobauer, die 2022 Fahrzeuge im Wert von 24 Milliarden EUR nach China exportiert haben“, verdeutlicht Michael Kolb, Vorstand bei Acredia.
Chinas Automobilindustrie in den Startlöchern
Schon heute macht der chinesische Markt für europäische Hersteller und ihre chinesischen Tochtergesellschaften und Joint Ventures rund 85 Prozent ihres Absatzes aus. Allerdings standen die Europäer beim Umstieg auf Elektromobilität mit dem Fuß auf der Bremse: Von den 20 meistverkauften Elektrofahrzeugen in China im Jahr 2022 wird nur eines von einem chinesisch-europäischen Joint Venture hergestellt.
Auch in Europa dürften Fahrzeuge, die in China gefertigt wurden, im Zuge der Energiewende zunehmend interessanter werden.
„Bis 2035 wird praktisch jeder in Europa verkaufte Neuwagen batteriebetrieben sein. Das begünstigt die teilweise Substitution von in Europa hergestellten Fahrzeugen durch chinesische Fabrikate – unabhängig davon, ob dahinter ein chinesisches, amerikanisches oder europäisches Unternehmen steht. In Europa sind die Marktanteile chinesischer Hersteller noch klein, aber sie dürften – analog zu koreanischen und japanischen Herstellern in der Vergangenheit – schnell wachsen“, erklärt Michael Kolb.
Europas Autoindustrie und die Wertschöpfungsproblematik
Um mögliche finanzielle Auswirkungen für die europäischen Autobauer abzuschätzen, haben Acredia und Allianz Trade in ihrer Studie ein Szenario analysiert, was passieren könnte, wenn chinesische Marken bis 2030 rund 75 Prozent des heimischen Marktes und in China hergestellte Autos gleichzeitig rund 10 Prozent des europäischen Markts eroberten.
„Die europäischen Automobilhersteller könnten bis 2030 allein durch den Verlust an Marktanteilen mehr als 7 Milliarden EUR an jährlichen Nettogewinnen verlieren. Hinzu kämen vielfältige Auswirkungen auf die gesamte Lieferkette der Hersteller. Das hätte enorme Auswirkungen auf die europäische Wirtschaft, für die der Automobilsektor eine große Bedeutung hat“, führt Michael Kolb weiter aus.
Wenn chinesische Hersteller ihren Marktanteil in China bis 2030 von aktuell rund 50 auf 75 Prozent erhöhen würden, würde der Gesamtabsatz der europäischen Automobilhersteller in China um -39 Prozent sinken, wobei die lokale Produktion von schätzungsweise 4,4 Millionen Fahrzeugen auf 2,7 Millionen im Jahr 2030 zurückgehen würde.
Wenn die europäischen Importe von in China hergestellten Autos im Jahr 2030 1,5 Millionen Fahrzeuge erreichen – das entspricht einem geschätzten Marktanteil von 10 Prozent im Jahr 2030 und 13,5 Prozent der EU-Produktion im Jahr 2022 – würden sich die Auswirkungen auf die Wertschöpfung der europäischen Wirtschaft im Jahr 2030 auf 24,2 Milliarden EUR für den Automobilsektor belaufen, was 0,15 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) der Region im Jahr 2022 entspricht.
Die von der Automobilindustrie abhängigen Volkswirtschaften Deutschlands (0,36 Prozent des BIP in Gefahr, der Slowakei (0,41 Prozent des BIP) und der Tschechischen Republik (0,4 Prozent des BIP) könnten jedoch noch stärker betroffen sein.
Wettbewerbsbedingungen anpassen und in Infrastruktur investieren
Der europäische Automobilmarkt hat insgesamt einen wesentlich höheren Wettbewerbsdruck durch die chinesischen Konkurrenten als beispielsweise der zweitgrößte Automobilmarkt in den USA. Grund dafür ist, dass der europäische Markt für batteriebetriebene Elektrofahrzeuge im Vergleich viel offener ist als der Chinesische oder der US-amerikanische. Dort sind die nationale oder regionale Montage eine Voraussetzung für den Erhalt von Kaufsubventionen. Ebenso sind die Einfuhrzölle auf ausländische Fahrzeuge wesentlich höher.
„Eine Anpassung der Wettbewerbsbedingungen an China und an die USA wäre ein wichtiger Schritt, um die Auswirkungen auf die europäische Automobilbranche und die Wirtschaft abzumildern. Aber auch die Stärkung der europäischen Produktion durch chinesische Hersteller könnte zu positiven Effekten führen. Wir haben das in der Vergangenheit umgekehrt in China gesehen: Wenn man sie nicht schlagen kann, ist es vielleicht eine Option, sich zusammenzutun“, erläutert Michael Kolb abschließend.
Weitere mögliche Stellschrauben, um die Negativeffekte zu kompensieren, sind Investitionen in neue Batterietechniken, eine Reduzierung bei der Abhängigkeit von Rohstoffen und importierten Komponenten für elektrische Antriebe sowie der Ausbau der Ladeinfrastruktur.
Mehr Infos zur Studie finden Sie hier