Die globale Corona-Pandemie stellt Wirtschaft und Finanzmärkte vor historische Herausforderungen. Die Unsicherheit hat die Volatilität im März sowohl an den Aktien- als auch an den Anleihenmärkten auf ein Niveau wie vor 12 Jahren, während der Finanzkrise, steigen lassen. Der amerikanische Aktienmarkt verzeichnete den schnellsten Kurssturz von einem Allzeithoch der Nachkriegsgeschichte. Allein im März gab es im S&P 500 13 Tage mit Veränderungen von über 4 Prozent im Tagesverlauf. Zum Vergleich: In den letzten 5 Kalenderjahren gab es gerade einmal zwei solcher Tage.
Nach Ansicht von Tilmann Galler, Kapitalmarktstratege bei J.P. Morgan Asset Management in Frankfurt, lohnt ein Blick dorthin, wo COVID-19 als erstes zuschlug: „China ist uns bei der Bewältigung der Krise ein bis zwei Monate voraus und liefert sehr gutes Anschauungsmaterial, was wir wirtschaftlich noch zu erwarten haben.“
Chinesische Erfahrungswerte nutzen
Zwei Fragen stellen sich derzeit im Besonderen: Erstens, wie lange dauert die Krise und wie gravierend sind ihre wirtschaftlichen Folgen? Und zweitens, ob die Corona-Krise nach dem Crash im März nun bereits vollständig eingepreist ist. Die Antwort zur ersten Frage hängt laut Tilmann Galler einerseits von der Medizin ab und wie schnell es gelingt, einen Impfstoff, ein wirksames Medikament oder einen zuverlässigen Schnelltest zu entwickeln. Andererseits gilt es seiner Meinung nach zu beobachten, wie erfolgreich die fiskalischen und monetären Hilfspakete die drei wirtschaftlichen Schocks absorbieren können, die durch die inzwischen global verordneten Maßnahmen zur Einschränkung der sozialen Kontakte ausgelöst wurden: „Die globale Wirtschaft muss nun fast gleichzeitige Schocks verdauen: einen Angebotsschock, einen Nachfrageschock und einen Liquiditätsschock – das macht diese Krise so einzigartig und gefährlich“, ist der Experte überzeugt.
Ein Blick nach China sei in der aktuellen Situation aufschlussreich, weil das Land schon einige Wochen länger mit der Krise zu kämpfen hat und es entsprechend für verschiedene Bereiche schon Erfahrungswerte gibt. So führte der Ausbruch der Corona-Krise in den ersten beiden Monaten des Jahres zu einem Rückgang der chinesischen Industrieproduktion von 13,5 Prozent im Vorjahresvergleich. Die Einzelhandelsumsätze sind sogar um 20,5 Prozent gefallen. „Besonders von der Krise betroffen ist aber der Dienstleistungssektor – Hotellerie, Konzertveranstalter und Kinobetreiber mussten Umsatzrückgänge zwischen 78 und 96 Prozent hinnehmen. Das Problem ist nun für viele Unternehmen, dass die Umsätze einbrechen, aber die Fixkosten bleiben“, stellt Tilmann Galler fest. Und das Liquiditätspolster vieler betroffener kleiner und mittelständischer Unternehmen sei relativ dünn. Eine Umfrage in China kam zum Ergebnis, dass bei rund zwei Drittel der Unternehmen die Liquidität für maximal zwei Monate reicht. „So führt der Angebots- und Nachfrageschock fast zwangsläufig zu Liquiditätsengpässen auf dem Finanzierungsmarkt, weil Unternehmen zur Liquiditätsbeschaffung ihre Kreditlinien ziehen oder es zu Kreditausfällen kommt“, sagt Galler.
Diese wirtschaftlichen Dynamiken seien seit Implementierung der Eindämmungsmaßnahmen nun auch in Europa und den USA zu beobachten. Aus diesem Grund hätten die Notenbanken weltweit die Liquiditätsschleusen in einem nie dagewesenen Ausmaß geöffnet und die Regierungen weltweit haben erhebliche Fiskalprogramme verabschiedet, um den betroffenen Unternehmen zu helfen, über die Schocks hinwegzukommen.
Corona-Krise ist eine temporäre Krise
China und inzwischen auch Südkorea lieferten aber auch Anschauungsmaterial zum Weg aus der Krise. Neben rigorosen Maßnahmen zur Einschränkung sozialer Kontakte haben ausgeprägte Tests zur Eindämmung der Epidemie beigetragen. Die Lockerung der Quarantänemaßnahmen und die Normalisierung der Wirtschaft haben in diesen Ländern wieder begonnen, unterstützt durch weitere Konjunkturpakete.
„Das sollte uns bei der aktuell schlechten Nachrichtenlage vor Augen führen, dass die Corona-Krise eine temporäre Krise ist. Für Unternehmen bedeutet das, dass in diesem Jahr die Gewinne aufgrund der globalen Rezession zwischen 20 und 30 Prozent fallen werden, doch für die Bewertung von Unternehmen spielt es eine viel größere Rolle, was in den Jahren danach passieren wird“, erklärt Tilmann Galler. Und hier sollte man sich den Optimismus nicht nehmen lassen, dass sich nach dem Überwinden der Krise die Ertragslage wieder deutlich verbessern werde.
Das Kurs-Buchwert-Verhältnis zyklischer Märkte hat Krisenniveau erreicht
Einen guten Hinweis darauf, dass nach den kräftigen Kursverlusten inzwischen Krisenbewertungen an den Aktienmärkten Einzug gehalten haben, gibt nach Analyse von Tilmann Galler der Blick auf das Kurs-Buchwert-Verhältnis (KBV): „Zyklische Märkte wie der DAX oder auch Schwellenländer-Aktien haben inzwischen ein KBV auf dem Niveau vergangener Krisen. Der Mut, in solchen schwierigen Zeiten Positionen zu halten oder gar aufzubauen, wurde nach den Erfahrungen der letzten drei Jahrzehnte auf mittel- bis langfristige Sicht mit überdurchschnittlichen Erträgen belohnt. Den Pessimisten mögen die aktuellen Schlagzeilen gehören – den Optimisten gehört jedoch die Zukunft“, sagt Galler.
Tilmann Galler ist als globaler Kapitalmarktstratege für die deutschsprachigen Länder bei J.P. Morgan Asset Management in Frankfurt tätig.