Es ist knapp 17 Uhr und in anderen Büros geht der Arbeitstag langsam zu Ende. Im Headquarter der Vienna Insurance Group, kurz VIG, dem Ringturm-Gebäude an der Wiener Ringstraße, herrscht noch reges Treiben. Kein Zufall: Schon vor zwanzig, dreißig Jahren bewegte sich die damalige Wiener Städtische Versicherung, die „Urmutter“ des heutigen Konzerns, auch damals schon der größte Versicherer des Landes, schneller als andere. So reagierte man nach dem Fall des Eisernen Vorhangs blitzartig: Der damalige Vorstand erkannte die immensen Chancen und beteiligte die Städtische im November 1990 mit schlappen 15,4 Millionen Schilling, also knapp 1,12 Millionen Euro in heutiger Währung, an der Gründung der tschechoslowakischen Genossenschaftsversicherung Kooperativa in Bratislava.
Damit war der Grundstein für die Expansion in die Länder des ehemaligen Ostblocks gelegt. Heute hat das Unternehmen rund 50 Töchter im gesamten CEE-Raum. Seit rund drei Jahren dirigiert Elisabeth Stadler das vielstimmige Orchester, und man merkt schon vorab, dass hier ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat: Sie ist locker im Umgang mit ihren Mitarbeitern, mit den engsten ist sie per Du und wird auch entsprechend geduzt. Das war und ist in anderen Konzernen keineswegs selbstverständlich. Der Autor dieser Zeilen hat einst noch erlebt, wie ein Angestellter das Zimmer seines Generaldirektors im Rückwärtsgang verlassen hat, weil er es nicht wagte, dem hohen Herrn seine Kehrseite zu präsentieren.
Keine Frühaufsteherin
Davon ist die VIG-Chefin Lichtjahre entfernt – trotzdem ist der Respekt, der Stadler als „Dirigentin“ entgegengebracht wird, stets spürbar. Wenn sie dann noch ehrlich gesteht, dass sie wie die meisten Menschen „nicht wirklich gerne in der Früh“ aufsteht, lacht sie herzlich mit den anderen mit. „Ich bin jetzt seit 35 Jahren in der Versicherungswirtschaft und habe noch keinen Tag davon bereut.“ Durch die ständig neuen Herausforderungen „ist man motiviert, nach Wien in die VIG zu fahren“, sagt die gebürtige Waldviertlerin, die die Strecke Langenlois – Wien und retour täglich absolviert. Sie spricht nicht von den Strapazen, wenn ein Flug aus dem Ausland zurück nach Wien abgesagt wird, sie erst mitten in der Nacht zurück und dann noch über eine Stunde nachhause unterwegs ist – und erst lange nach Mitternacht ins Bett fällt. Für Stadler gehören diese Dinge zum Job. Muss man nicht reden darüber. Der Beobachter merkt: Die Leitwölfin klagt nicht – sie führt.
Wie aber hat sich die VIG seit ihrem Amtsantritt entwickelt? „Ich hoffe, positiv!“, lacht die studierte Versicherungsmathematikerin. Die Zahlen geben ihr recht: Unter ihrer Führung schoss der Gewinn vor Steuern um fast 9 Prozent nach oben und der Marktwert der VIG wuchs gleich um mehr als 20 Prozent. Stadler verfolgt bei der Strategie konsequent die „Agenda 2020“, ein intern erarbeitetes Programm, das ein klares Ziel für das Jahr 2020 definiert und am Weg dorthin konkrete Meilensteine abverlangt. „Bis dato haben wir alle erfüllt – und sogar übererfüllt, weil wir alle Ziele um jeweils ein Jahr vorverlegen konnten“, erläutert die VIG-Generaldirektorin. Das Unternehmen ist klare Nummer eins in Österreich und Osteuropa. Im europäischen Kontext gehört die VIG immerhin zu den 25 größten Versicherern.
Teamfähigkeit statt Starkult
Für die Zukunft erwartet die CEO eine Menge Herausforderungen für das Management: „Gerade Führungskräfte müssen sich anpassen. Dieses Top-Down- Leadership, wie wir es von früher her kennen, ist nicht mehr gefragt. Wir brauchen auch keine Starmanager wie einst, die sich bloß ins Rampenlicht gestellt haben.“ Heute, so Stadler, ist Teamfähigkeit extrem wichtig: „Leadership im Team ist gefragt – und die Mitarbeiter sind entsprechend einzubinden.“ Auf Augenhöhe mit den Mitarbeitern zu kommunizieren ist eines der Dogmen der VIG-Generaldirektorin: „Ihre Ideen und Meinungen abholen und diese berücksichtigen – aber auch erklären, warum sie eventuell nicht umsetzbar sind.“
Auch die Unterteilungen mit Gruppen-, Bereichs- und Teamleitern, wie sie früher gang und gäbe waren, sind heute fast ausgestorben. „Es gibt jetzt extrem viele Spezialisten und Experten, die auch nicht in Strukturen gefangen sein wollen, die sie nur hemmen. Sie wollen möglichst viel Autonomie und Freiheit haben und Verantwortung übernehmen können. Darauf müssen sich die Unternehmen einstellen – die Großen mehr als die Kleinen“, ist Stadler überzeugt.
Man muss eine gewisse Fehlerkultur haben und Fehler auch zulassen – die meisten großen Erfindungen sind auch nur passiert, nachdem es vorher viele Misserfolge gegeben hat.
ELISABETH STADLER
Letzteres heißt aber nicht, dass die Generalin mit den Fehlern von Mitarbeitern nicht umgehen kann: „Man muss eine gewisse Fehlerkultur haben und Fehler auch zulassen – die meisten großen Erfindungen sind auch nur passiert, nachdem es vorher viele Misserfolge gegeben hat. Man kann aus jedem Fehler etwas lernen, um Dinge anders zu machen, zu verbessern.“
Ruhepol Terrasse
Und wie chillt die Dirigentin eines 25.000-Personen-Orchesters? „Am liebsten sitze ich nach einem anstrengenden Arbeitstag auf meiner Terrasse in Langenlois, trinke ein Glaserl Wein aus der Gegend und lasse den Tag Revue passieren – das ist für mich wirklich entspannend. Und falls ich einmal mehr Zeit habe, gehe ich gerne Golf spielen. Das ist zum Abschalten bestens geeignet – da ist man so mit sich selber und dem Ball beschäftigt, da vergisst man völlig, ans Büro, an Aufgaben oder Probleme zu denken“, sagt VIG-Generaldirektorin Elisabeth Stadler.